Der Arzt von Stalingrad
scheußlich.«
Janina Salja winkte ab. Ihre kleine Hand war wie ein müder Schmetterling. »Es stört mich nicht.«
»Aber mich«, beharrte Dr. Kresin eigensinnig. »Die deutsche Bande soll Ordnung lernen …«
Dr. Schultheiß schluckte es, wie er alles in den Jahren der Gefangenschaft schluckte. Zwar wurden die Ärzte in allen Lagern und von allen Russen, vor allem aber von den Offizieren, höflich und besser behandelt als die Masse der anderen Gefangenen, die man in der ersten Zeit bis 1946 zusammenschlug, hungern und einfach in einer Ecke verrecken ließ oder zu Tode quälte. Aber die Ärzte bearbeitete man psychologisch, band ihnen die Hände durch Hunderte von Schikanen. Man warf ihnen dann Unfähigkeit vor, wenn sie wegen der technischen Mängel versagten. Man versprach den Gefangenenlazaretten volle Unterstützung, man pochte auf die Richtlinien des Internationalen Roten Kreuzes, aber man tat nichts, was wirklich helfen konnte, man sah über die Ärzte und Kranken hinweg, auch wenn ihre Wünsche so laut wurden, daß sie kaum mehr überhört werden konnten. Ein schmerzlicher Punkt war das Zurückhalten von Betäubungsmitteln. »Es besteht der Verdacht, daß Betäubungsmittel als Rauschgift verbraucht werden«, hieß es. »Für euch Deutsche ist der Holzhammer gut genug«, hatte Dr. Kresin, der Verwalter der Lazarettgruppe Stalingrad, Krassnopol und Nowotscherkask geantwortet, als Dr. von Sellnow um Morphium bat. Sellnow nannte ihn einen satanischen Sauhund und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Das brachte ihm 14 Tage Dunkelarrest bei halber Verpflegung ein, die er in seinem Haß gut überstand und zur Verwunderung aller noch wütender verließ.
Janinas sanfte Wärme machte Schultheiß rot und unsicher. Sie sah ihm ein wenig traurig in die Augen und fragte: »Was werden Sie jetzt mit mir tun?«
»Sie werden nur Ruhe haben müssen …«
»Dann bringen Sie vorher Worotilow um«, knurrte Dr. Kresin vom Fenster her.
»Er wird vernünftig sein müssen«, meinte Schultheiß entschieden.
Dr. Kresin lachte laut. »Zeigen Sie mir einen vernünftigen Bock! Wo er ein Weib sieht, muß er springen …«
Janina sah Schultheiß flehend an. Er las in ihren Augen Angst und Verzweiflung. Einen Augenblick war er versucht, den Arm um ihre schmalen Schultern zu legen und sie tröstend an die Brust zu ziehen, aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja nur ein Plenni war und sie eine Russin, sogar eine hohe Funktionärin, die eine Uniform trug und einen hohen Orden auf der kleinen Brust. Er ließ die halberhobenen Arme sinken und wandte sich brüsk Dr. Kresin zu.
»Fräulein Salja wird alles bekommen, was für eine Kur notwendig ist … wenn Sie es genehmigen.«
»An mir soll es nicht liegen.« Dr. Kresin lachte rauh. »Ein Gefangenenlager als Sommersanatorium. Das wäre eine schöne Geschichte für einen orientalischen Märchenerzähler. Verdammt, was ihr deutschen Ärzte alles fertigkriegt …«
Er lehnte sich aus dem Fenster und brüllte zwei Gefangene an, die zur Latrine schlurften.
Janina setzte sich auf den Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Kommen Sie mich heute abend besuchen?«
»Wenn Major Worotilow nicht bei Ihnen ist.«
»Ich werde sagen, ich sei müde. So müde.«
»Das sind Sie auch, Janina.«
»Ja, Jens …«
Dr. Schultheiß zuckte zusammen.
»Woher kennen Sie meinen Namen?« flüsterte er.
»Von Kresin. Ich fragte ihn danach.«
»Und warum?«
»Weil Sie so blaue Augen haben wie ich …« Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Füße, die unruhig auf den Dielen scharrten. »Mein Vater hatte auch so blaue Augen. Wir wohnten an der Wolga, direkt am Fluß, und er hatte eine kleine Fischerei, zwei Boote, die die Fänge nach Saratow auf den Fischmarkt brachten. Er starb aus Kummer, als mein Bruder bei Orscha fiel. Wir haben nie sein Grab gefunden …« Ihre Stimme klang wie geborsten. »Der Krieg ist furchtbar für die Menschen, Jens. Er verbittert die Herzen und sät Haß, wo man lieben sollte. Ich bin so jung und habe nichts anderes gesehen als Krieg …«
»Wie alt sind Sie, Janina?«
»Einundzwanzig, Jens.«
»Wie herrlich jung, Janina.«
»Und doch wie alt. Ich habe immer nur Uniformen getragen … Jungbolschewistin … Kaderführerin im Lazarett … Partisanenmädchen … Das Ehrenkleid der Partei und der Armee … Ich habe nur Soldaten gesehen … eigene und deutsche. Ich bin russischer als Rußland … Glauben Sie, daß einundzwanzig Jahre alt ist?«
Dr. Schultheiß
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