Der Arzt von Stalingrad
Stimme war fest, als er die Zahlen zwölf und dreizehn nannte. Dr. Kresin ließ ihm keine Wahl mehr: er stand neben ihm und untersuchte die Gefangenen ›nach‹. So kam es auch zu kleinen Meinungsverschiedenheiten, als am Ende der langen Reihe auch die fünf Schreiber sich vorstellten und Dr. Kresin ohne Zögern sagte: »Tauglich!«
»Zwölf!« rief Dr. Böhler.
»Gehen Sie mir mit den Nummern zwölf und dreizehn weg! Die Kerle haben sich gemeldet, sie sind bis auf die typischen Unterernährungserscheinungen gesund, sie haben keine Ruhr, keinen Typhus, keine Tbc, keine Dystrophie … sie haben nur zu wenig Fleisch auf den Knochen! Und das wird man in Moskau heranfüttern.«
Karl Georg sah Julius Kerner und Peter Fischer an. Seine Augen strahlten. »Nach Moskau, habt ihr gehört?« flüsterte er.
»Sieht aus, als wenn wir schnell wegkämen …«
In die Liste für die Neukommunisten kamen auch die fünf Schreiber. Gegen den Willen Dr. Böhlers.
Der Kommissar war sehr zufrieden. Er sah sich die Endzahl an und nickte. 285 Männer! Ein kleines Lager! Eine nette Horde zukünftiger Spitzel und Volkspolizisten für die Sowjetzone. Ein Stammpersonal, das man in Moskau gebrauchen konnte.
Wieder stapften die vermummten Gestalten durch den Schnee. Wieder warteten sie in langen Reihen vor der Kommandantur und schneiten zu. Der Abend war gekommen, die große Kälte setzte ein. Der Himmel wurde klar, der Schnee wie Glas. Nur der klirrende Frost lag über der weißen Erde.
Von den hölzernen Wachttürmen hörte man die Posten fluchen. Die zweite Schicht der Waldarbeiter kam zurück … müde und zitternd standen sie am großen Lagertor und wurden nachgezählt. Die Begleitsoldaten schimpften und sehnten sich nach der warmen Baracke. Von den Wäldern klang leise das ferne Heulen der Wölfe.
In der Kommandantur gingen die ›Ausgewählten‹ am Tisch Wadislav Kuwakinos vorbei und unterschrieben die Verpflichtung für die Kommunistische Partei. Der Text war in russischer Sprache gehalten, eine Übersetzung war nicht beigefügt, und so wußte keiner, was er da unterzeichnete und wozu er sich verpflichtete. Allein der Gedanke, schnell in die Heimat zu kommen, trieb sie dazu, ihre Unterschrift auf die Blätter zu setzen.
Kuwakino strahlte. Er drückte Major Worotilow die Hand, nannte das Lager einen Musterbetrieb wie eine staatliche Kolchose und steckte die Papiere in seine dicke Aktenmappe. Selbst Dr. Böhler wurde mit einem freundlichen Kopfnicken bedacht, als er fragte: »Kann ich jetzt in mein Lazarett gehen? Meine Kranken warten auf mich …«
Kommissar Kuwakino sah Worotilow an und blickte dann über die 285 Jammergestalten, die wieder draußen in der Kälte standen und zitterten. Er grinste, seine weit auseinanderstehenden Augen blinzelten.
»Eine kleine Überraschung habe ich für die, die sich gemeldet haben«, sagte er händereibend. Er winkte, und ein russischer Soldat schleppte einen großen Pappkarton herbei, der bis zum Rand mit Briefen gefüllt war.
Mit deutschen Briefen!
Briefen aus der Heimat …
Dr. Böhler starrte auf diesen Karton. Seine Backenknochen mahlten. Post! Nach vier Jahren Post! Nach vier langen, qualvollen, hoffnungslosen Jahren Post!
Endlich Hoffnung. Endlich Liebe! Endlich Erlösung aus der Einsamkeit.
Die Heimat kam nach Rußland!
Julius Kerner begann zu zittern. Auch Peter Fischer und Karl Georg, Karl Eberhard Möller, Hans Sauerbrunn starrten entgeistert auf den Karton. Sie standen dem Soldaten am nächsten und lasen die ersten Adressen, die auf den Kuverts standen.
»Post«, stammelte Kerner. »Von meiner Frau … den Kindern …«
Der Russe stellte den Karton vor Kuwakino auf den Tisch. Der wühlte in den Briefen herum und sah Worotilow an.
»Ich möchte nur die Briefe an die Gefangenen herausgeben, die sich gemeldet haben«, sagte er. Worotilow wurde bleich und verschlossen. »Das wäre eine Härte gegen die anderen, Genosse Kommissar …«
»Sie können sich ja auch melden.«
»Man kann eine Weltanschauung nicht erpressen!«
»Man kann! Ich beweise es.« Kuwakino grinste wieder. Er wandte sich an die fünf Schreiber und wies auf den großen Karton. »Alle 'raussuchen, die in der Liste stehen! Die andern abliefern!«
Julius Kerner stürzte zu den Briefen hin und begann zu wühlen. Er suchte … suchte bis Peter Fischer ihn in die Rippen stieß und die Listen vor sich auf den Tisch legte.
»Einen nach dem anderen. Du wirst deinen schon finden.« Er leerte den Karton aus. Zu
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