Der Arzt von Stalingrad
einem großen Haufen türmten sich die meist eng beschriebenen Antwortkarten der Kriegsgefangenen-Post. Monoton begannen Möller und Georg die Namen der Empfänger zu lesen, während Kerner, Fischer und Sauerbrunn sie mit der Liste verglichen.
Waldschmidt.
Eben.
Friedrich Siebach.
Emil Pelz …
»Der Sani, sieh an.« Kerner legte den Brief weg. Zwei Stunden sortierten sie die Karten und Kuverts.
Zwei Stunden standen die 285 Männer in schneidendem Frost, schlugen die Arme um den Körper und warteten …
Die Nacht war klar wie Eis. Wenn man sprach, war es, als würden die Worte zu Glas, das klirrend zersprang.
Eine weitere Stunde dauerte die Verteilung. 249 Gefangene bekamen Post.
249 Glückliche, die mit Tränen die wenigen Worte lasen. Die ersten seit vier Jahren.
Aus Deutschland …
In dieser Nacht wanderte der kleine, ausgemergelte Pastor von Baracke zu Baracke. Er hatte viel zu trösten … die Weinenden und Verzweifelten … die Trostlosen und die Stumpfen … aber auch die Glücklichen, die zurückfanden zu Gott und beten wollten.
Denn Gott war mit der ersten Post gekommen …
Auf seiner Pritsche lag Julius Kerner, neben sich die Trompete, und starrte an die Decke. In der Baracke war es still.
Die Mehrzahl hatte Post bekommen. Nun las man die Zeilen, die Worte, die Silben hundertmal hintereinander …
Julius Kerner hatte einen Brief auf seiner Brust liegen. Sein Gesicht war starr, leblos, steinern. Als ihn Peter Fischer ansprach, drehte er sich zur Seite und schwieg.
»Den hat es umgehauen«, sagte Fischer leise zu Sauerbrunn und Georg. »Der hat Heimweh, daß er schreien könnte …«
Karl Eberhard Möller drehte sich um und rief zu Kerner hinauf: »Was schreibt denn deine Frau? Nun sag schon was …«
Julius Kerner schwieg. Aber nach einiger Zeit stand er auf, nahm seine Trompete und drückte sie Karl Georg in die Hand. Der ergriff sie verwundert und sah ihm nach, wie er aus der Baracke ging …, ohne Jacke, ohne Mütze, nur mit Hemd und Hose bekleidet.
»Der wird auf der Latrine frieren«, sagte Möller stockend. »Mein Gott, ich könnte heulen, wenn ich Mutters Karte lese.«
Nach einer halben Stunde war Julius Kerner noch nicht zurück. Karl Georg sah die anderen ängstlich an.
»Da stimmt doch was nicht, Kinder. Da ist doch was los.« Er rief einen der Gefangenen an, die von draußen kamen. »Ist der Kerner auf der Latrine?«
»Nee.«
Peter Fischer sprang auf. Er ging zu Kerners Bett und sah mit Staunen, daß dort der Brief lag. Er nahm ihn auf, zog ihn aus dem Kuvert und begann, die wenigen Zeilen zu lesen.
»Mein Gott, mein Gott …«, sagte er. Blaß setzte er sich an den Tisch und legte den Brief leise auf die Platte. »Er hat keinen Menschen mehr, der Julius … Sein Schwager schreibt es ihm … die Frau und die Kinder liegen unter den Trümmern … Bomben …«
Karl Georg sah auf die Trompete, die ihm Kerner gegeben hatte, und wußte alles.
»Alle 'raus!« schrie er in die Baracke. »Der Kerner! Der Kerl tut sich was an! Alle 'raus!«
Sie rannten so, wie sie waren, aus der Baracke in die eisige Winternacht. Der Frost fiel sie an wie ein hungriger Wolf – sie rannten durch die Lagergassen und schoben die erstaunten Pendelposten einfach zur Seite.
Die Alarmsirene gellte schrill. Auf den Wachttürmen flammten die Scheinwerfer auf und hüllten das Lager in Tageshelle. Den Zaun, die Baracken, das Vorfeld.
Major Worotilow und Leutnant Markow stürzten aus der Kommandantur. Kommissar Kuwakino lehnte am Fenster und kaute an seiner Unterlippe. Dr. Böhler und Dr. Schultheiß standen in ihren Steppjacken und Fellmützen auf der Treppe des Lazaretts und blickten auf das wilde Durcheinander.
»Der Kerner ist verschwunden!« keuchte Emil Pelz, der gerade um die Ecke rannte. »Er hat einen Brief von Zuhause bekommen. Alle durch Bomben getötet …«
Dr. Böhler sah kurz zu Dr. Schultheiß hin. »Armer Kerl. Vier Jahre Rußland. Er hat sie durchgehalten! Und jetzt …« Er blickte zu Boden. »Lassen Sie ein Bett frei machen, Dr. Schultheiß …«
Nach einer halben Stunde fand man Julius Kerner in der äußersten Ecke des Lagers, nahe der Küche. Er hatte sich auch noch Hemd und Hose ausgezogen, nackt lag er im vereisten Schnee. Sein Körper war schon weiß und leblos. Die halbgeöffneten Augen starrten nach oben, und an den Lidern hingen gefrorene Tränen.
Major Worotilow stand vor ihm. Dr. Kresin kniete im Schnee und erhob sich kopfschüttelnd.
»Vorbei«, sagte er. Dann stapfte
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