Der Arzt von Stalingrad
er wortlos durch die Nacht davon.
»Warum?!« fragte Worotilow den neben ihm stehenden Peter Fischer. Fischer weinte wie ein Kind.
»Er hat Frau und Kind verloren …«, schluchzte er. »Es stand in dem Brief …«
»Tragt ihn hinein.« Der menschliche Russe Worotilow wandte sich ab. »Und wenn ihr ihn begrabt, gebt ihm seine Trompete mit.«
Leutnant Markow stand starr daneben, als man Julius Kerner aus dem Schnee hob und den steifgefrorenen, nackten Körper in eine Decke hüllte und forttrug.
Ein Deutscher weniger! Aber dann dachte er an seine kleine Frau Jascha und seine Tochter Wanda und daran, daß auch sie sterben könnten. Das machte ihn schwach und hilflos.
Schwankend ging er zu seinem Zimmer zurück.
An der Beerdigung von Julius Kerner hatten Major Worotilow, Leutnant Markow, Dr. Kresin und die Kasalinsskaja teilgenommen. Der kleine, verhärmte Pfarrer sprach mit stockender Stimme: »Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, der Du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lassest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt …«
Drei Wochen nach der Beerdigung erschien Dr. Kresin bei Dr. Böhler und setzte sich stöhnend in einen der Sessel.
»Man hat Sorgen in Moskau, in der Zentralstelle für Kriegsgefangenenwesen. Große Sorgen sogar! Wir haben den Auftrag bekommen, alle Lager mit mustergültigen Lazaretten zu versehen und alles, was benötigt wird, sofort zu melden! Auch sollen neue kulturelle Einrichtungen geschaffen werden – eine Lagerbibliothek, Feierstunden, Theater, ein Lagerkino …« Dr. Kresin schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, warum man euch gefangenhält, wenn ihr ein besseres Leben habt als die Millionen Bauern in unserem Lande. Da soll sich einer auskennen! Wissen Sie, was in den Anweisungen steht?« Er hieb mit der Faust auf seine prallen Schenkel. »Es sollen eingeführt werden: Schachgruppen, Sportplätze, Fußballmannschaften, Leichtathletikkämpfe, Kunstausstellungen von Kriegsgefangenen und sowjetischen Künstlern!« Dr. Kresin sah den deutschen Arzt hilflos an. »Begreifen Sie das?! Kunstausstellungen bei den Plennis?! Fußball? Schach? Eine Wettkampfbahn! Man hat in Moskau den Überblick verloren!«
»Sport hat uns schon lange gefehlt.« Dr. Böhler schüttelte den Kopf. »Alles, was Sie jetzt sagen, würde sehr dazu beitragen, das Los der Gefangenen zu erleichtern und ihnen neuen seelischen Auftrieb geben! Man ist weise in Moskau – nur der halbwegs zufriedene Mensch leistet wirklich gute Arbeit!«
Dr. Kresin verzog sein Bulldoggengesicht. »Seelischer Auftrieb. Wenn ich mir Sellnow betrachte, weiß ich genug. Wenn der noch einen Auftrieb bekommt, sind wir in einem Karussell!« Er stockte und sah aus dem Fenster auf die vereiste Landschaft. »Übrigens … können Sie Schach?«
»Ja. Ich spiele es leidenschaftlich.«
»Hm.« Er sah auf seine dicken, großen Hände. »Wir Russen haben da einen Ausdruck: Kulturnaja shisnij! Kultiviertes Leben, würdet ihr dazu sagen … das will man jetzt bei den Plennis einführen. Wenn ihr mal nach Hause kommt, sollt ihr sagen: Uns ging es besser als den Russen in den deutschen KZ.« Er erhob sich und warf Dr. Böhler eine Liste zu. »Da – füllen Sie aus, was Sie brauchen! Man verlangt ein mustergültiges Lazarett! Es muß bis zum Frühjahr fertig sein! Eine Kommission kommt und prüft, ob es nach den Wünschen der Zentralleitung eingerichtet wurde.«
Dr. Böhler kam sich vor wie in einem Märchen. »Ich darf alles aufschreiben, was ich mir für mein Lazarett wünsche?«
»Sie sollen schreiben, was Sie brauchen für ein Musterlazarett.«
»Und ich bekomme es wirklich?«
»Hoffentlich.«
»Auch ausgebildetes Schwesternpersonal?«
Dr. Kresin grinste. »Das könnte Ihnen so passen«, sagte er mit fettem Lachen.
Dann füllten Dr. Böhler und Dr. Schultheiß die Listen aus. Sie vergaßen nichts – von der kleinsten Klemme bis zum komplizierten Rippenspreizer, von den Sulfonamiden bis zum Penicillin. Vor allem Betten, Betten, Betten. Sanitäre Anlagen. Desinfektionsmittel. Für die Lungenstation eine Pneumothorax-Einrichtung.
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