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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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war. Er war außerdem nicht sicher, ob es sie überhaupt interessierte.
    Eher nicht, dachte er.
    Im Badezimmer kämmte er sich mit den Fingern die Haare zurecht. Er versuchte, sein Alter zu schätzen, aus Sicht eines Fremden.
    Fünfundvierzig, dachte er. Er konnte das auch begründen. Seine Haare ließen ihn jünger aussehen, sie waren dicht und kräftig, es war eine Mähne.
    Oder jedenfalls üppig, dachte er. Mähne war übertrieben, und er wollte ja auch keine Löwenhorde anführen. Etwas grau an den Schläfen, aber noch immer überwog die Farbe reifer Kastanien. Notfalls konnte man die verwelkten Stellen färben. Die Frage war nur, für wen. O’Hara hatte ihn nie nach der Farbe seiner Augen, seiner Haare gefragt. Und nur ein einziges Mal hatte sie sein Gesicht abgetastet, sehr ausführlich und exakt allerdings. Das Ergebnis kannte er nicht, er wusste nicht, wie er für sie aussah. Er bedauerte das, denn wenn Symmetrie ein Maßstab für Schönheit war, so hätte man sagen können, dass sein Gesicht recht symmetrisch war. Angenommen, O’Hara hatte das bemerkt: was hätte sie mit der Symmetrie anfangen können? Besaßen Blinde einen Sinn für körperliche Schönheit? Er befürchtete, dass noch Jahre vergehen mussten, bis er ihr diese Frage zu stellen wagte.
    Er zog die Tür hinter sich zu und fuhr im Lift hinunter in die Hotellobby. Neben den Liftknöpfen hing die Wetterprognose für den nächsten Tag: Bedeckt bei plus zwei Grad, Sonnenaufgang 11:19. Die isländischen Kinder gingen folglich im Dunkeln zur Schule, und wenn sie in der Zehn-Uhr-Pause auf den Schulhof strömten, war es immer noch dunkel, unter den Sternen verzehrten sie ihr Pausenbrot.
    Die Hotelbar glühte neonblau. Die eisige Illumination mochte eine ironische Anspielung auf den Landesnamen sein; Jensen bezweifelte allerdings, dass die Isländer auf so raffinierte Ideen kamen.
    Zum Teufel!, dachte er. Lass die Isländer in Ruhe!
    Er bestellte ein Bier, der Kellner verlangte eine Spezifikation. Jensen war sein einziger Kunde, der Kellner verfügte über alle Zeit der Welt, zwölf Biersorten zählte er auf.
    Während Jensen den Sermon höflich über sich ergehen ließ, sagte hinter ihm jemand auf Flämisch: »Nehmen Sie das Einheimische.«
    Jensen drehte sich um.
    »Thule Lättöl«, sagte Jan De Reuse. »Ich kann es empfehlen.«
    Jensen brauchte einen Moment, um in der neuen Situation heimisch zu werden.
    »Ich dachte, Sie kommen erst morgen«, sagte er. Es war ihm unmöglich, seine Enttäuschung zu verbergen. Ihm standen ja noch drei Wochen bevor, drei Wochen mit drei Fremden irgendwo in der isländischen Einöde, in einem Haus, von dem der Taxifahrer behauptet hatte, es existierenicht. Jensen hatte gehofft, diesen einen Abend noch allein verbringen zu können.
    »Ich störe Sie doch nicht?«, sagte De Reuse, ohne Jensen anzusehen.
    »Nein«, log Jensen. »Ganz und gar nicht. Und die anderen? Sind sie auch schon hier?«
    »Sie kommen erst morgen, wie verabredet. Wir werden sie am Flughafen abholen.« De Reuse rückte einen Barhocker zur Seite, lehnte sich an die Theke und winkte den Kellner zu sich. Er sprach isländisch mit ihm. Der Kellner nickte; auf dem Weg zum Zapfhahn schaltete er die im Gläserregal eingebaute Stereoanlage ein, Pianomusik erklang, As Time Goes By.
    »Das ist Island«, sagte De Reuse. »Ab zwei Gästen schalten sie die Musik an.«
    »Ja«, sagte Jensen. Er fühlte die Notwendigkeit, etwas Kluges sagen zu müssen, aber ihm fiel nichts ein. Immerhin war De Reuse Professor für Physik, wenn auch nur an der Universität von Antwerpen, einer zweitklassigen Lehranstalt. Dennoch bestand zwischen ihnen ein deutliches Ungleichgewicht: hier der Laie, dessen Liebe zur Physik mangels mathematischer Kenntnisse etwas Schwärmerisches hatte, dort der Professor, der über das Higgs-Boson forschte, international gesehen zwar nur in der hintersten Reihe, aber trotzdem, De Reuses Gegenwart schüchterte ihn ein, Jensen hatte das Gefühl, sein Kinn nicht von der Brust lösen zu können. Ihm war nach wie vor rätselhaft, warum De Reuse ihn zu diesem Privatseminar eingeladen hatte. Er wagte allerdings auch nicht, nach dem Grund zu fragen; er befürchtete, dass die Antwort ihn verletzen könnte.
    »Und?«, fragte De Reuse. »Wie gefällt Ihnen Island? Können Sie das schon beurteilen?«
    Jensen sagte etwas Freundliches, denn De Reuses Mutter stammte ja von hier. De Reuse kratzte sich mit dem Fingernagel etwas aus dem Mundwinkel, er schien gar nicht

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