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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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zuzuhören.
    Der Kellner brachte ihnen auffallend helles, schaumloses Bier.
    »Skål«, sagte De Reuse. Er prostete Jensen zu. Das Bier schmeckte nach nichts.
    De Reuse trug einen weißen Rollkragenpullover, dazu weiße Hosen aus grobem Leinen, Segelschuhe, denn das Seemännische war sein Stil. Auch während des Seminars an der Volkshochschule hatte er ausschließlich Jachtbekleidung getragen. Man hatte stets den Eindruck gehabt, dass ein Weltumsegler an der Volkshochschule kurz vor Anker gegangen war, um die physikbegeisterten Laien in die Geheimnisse der Quantenverschränkung einzuweihen, bevor er, der braun gebrannte Skipper, wieder Segel setzte und Kurs auf unerforschte Inseln nahm.
    De Reuse trank sein Glas in einem Zug leer und streckte dem Kellner zwei Finger hin.
    »Woher kommt eigentlich Ihr Interesse für Physik?«, fragte er. »Während des Kurses hatten wir ja keine Zeit, uns näher kennenzulernen. Aber wie Sie wissen, sind Sie mir aufgefallen. Sonst wären Sie nicht hier. Die ganze Zeit über habe ich mich gefragt: Was bringt einen Kriminalbeamten dazu, sich frühzeitig pensionieren zu lassen, nur um sich dann ganz der Physik zu widmen?«
    Es war ein Fehler, dachte Jensen, ich hätte es nicht tun sollen. Er vermisste seinen Beruf, und die Physik füllte die Lücke nicht. Sämtliche populärwissenschaftlichen Bücher hatte er bereits gelesen, und über das Laienstadium würde er nie hinauskommen, dazu fehlten ihm die mathematischen Grundlagen. Die Sprache der Natur war die Mathematik,das Universum dachte in Zahlen, aber er eben nicht. Er konnte nur in Bildern denken, und Bilder waren die Übersetzung der Natursprache in spezifisch menschliche Emotionen und Interpretationen; Bilder konnten unmöglich die physikalische Wahrheit wiedergeben, das erreichten nur Gleichungen. De Reuse konnte sich mit dem Universum unterhalten, er nicht. Das wollte Jensen aber unter keinen Umständen zur Sprache bringen.
    »Als ich elf war«, sagte er, »ist meine Mutter gestorben. Sie war Alkoholikerin.« Er war sich nicht sicher, ob er De Reuse gegenüber wirklich so offen sein wollte. Andererseits war es ihm wichtig, dessen Frage nach seinem Interesse für Physik wahrheitsgemäß zu beantworten. »In der Nacht vor ihrem Tod betete ich. Ich flehte Gott an, er möge meine Mutter sterben lassen. Es war so ernst gemeint, wie ein Kind es eben ernst meint, wenn es verzweifelt ist und einfach nur möchte, dass alles aufhört. Am nächsten Tag war meine Mutter tot, und nun stand ich vor der Frage, ob ich daran schuld war oder nicht.« Jensen trank sein Bier leer, der Kellner stellte bereits das zweite hin. »Es war jetzt absolut notwendig, dass ich herausfand, wie die Welt funktionierte. Eines Tages, während einer Messe in der Konstanzer Dreifaltigkeitskirche, fiel mir auf, dass Christus an nur drei Nägeln am Kruzifix hing. Ich überlegte mir, wie schwer Christus zu Lebzeiten gewesen war. Er war Mensch und Gott, und als Mensch hatte er folglich bestimmt sechzig oder siebzig Kilo gewogen. Es fiel mir schwer, zu glauben, dass ein siebzig Kilogramm wiegender, vertikal hängender Erwachsener von nur drei Nägeln an einem Kreuz festgehalten werden konnte. Nach der Messe habe ich in unserem Garten einen sieben Kilogramm schweren Sack mit Kohlebriketts am Apfelbaum befestigt, mit drei Nägeln. Nach achtzehn Minuten, ich habe es mit der Stoppuhr überprüft,riss der Sack und fiel zu Boden. In diesem Moment begriff ich, dass es eine messbare Wahrheit geben muss und dass diese Wahrheit etwas Befreiendes hat.«
    »Wunderbar«, sagte De Reuse. Er stieß mit Jensen an. »Skål. Die Geburt der Physik in der Kirche. Sie kennen doch die Geschichte, dass Galileo Galilei während einer Messe einen hin- und herschwingenden Kandelaber beobachtete und anhand dieser Beobachtung später herausfand, dass die Periode eines Pendels nicht von der Auslenkung oder dem Gewicht abhängt, sondern von der Länge des Pendels. Dass es der Kandelaber in der Kirche war, der ihn auf diesen Gedanken brachte, ist natürlich nur eine Legende. Es ist trotzdem eine schöne Geschichte. Wie Ihre. Eine hübsche kleine Geschichte.«
    De Reuse glaubte ihm also nicht. Jensen fand es unverschämt, wusste aber nicht, wie er darauf reagieren sollte. Ein Streit schon am ersten Abend? Verdrossen trank er das schale Bier. De Reuse fragte ihn, ob ihm das isländische Bier nicht schmecke, Jensen sagte, so sei es in der Tat. De Reuse bestellte zwei Pils. Eine Weile lang unterhielten sie

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