Der Assistent der Sterne
Ihre Hilfe zählen?«
»Moment«, sagte Jensen. »Sie werden vier Tage weg sein? Aber das Seminar …« Von einer Gletschertour war nie die Rede gewesen! »Wäre es nicht besser, Sie würden diese Tour ein andermal … ich meine, wenn Sie mit Ihrer Freundin einmal allein hier sind?«
Der Kellner brachte ihnen unaufgefordert noch einmal zwei Pils; Jensen kam zur Überzeugung, dass ein Glas mehr oder weniger überhaupt keine Rolle mehr spielte.
»Wäre das nicht besser?«, wiederholte er, und diesmal entfuhr ihm der Rülpser.
»Diese Gletschertour«, sagte De Reuse, »ist Teil des Seminars. Und damit ist das Thema für mich beendet.« Er warf Jensen einen finsteren Blick zu.
»Na gut. Aber jetzt im Winter. Ist das nicht riskant? Eine Gletscherüberquerung? Hier wird es ja nie hell. Oder nur von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang, und auch dann fragt man sich …« Ja, was fragte man sich? Er hatte es vergessen.
»Sie sind betrunken«, sagte De Reuse.
»Sie etwa nicht? Jedenfalls vorhin waren Sie betrunken.«
»Ich will Ihnen Ihre Frage trotzdem beantworten: Ja, es ist sogar sehr gefährlich, aber nicht für jeden.« De Reuse klopfte mit seinem Siegelring ans Bierglas. »Hören Sie das?Es klingt etwas dumpfer als sonst.« Er hob das Glas ans Licht. »Es hat einen Sprung. Es ist nur ein Haarriss. Man kann ihn nicht sehen. Aber man hört es, wenn man mit einem metallischen Gegenstand das Glas zum Schwingen bringt und weiß, worauf man achten muss.« Nach einer Pause sagte er: »Der Langjökull ist gefährlich für alle, die ihn nicht kennen. Aber ich kenne ihn gut.«
De Reuse trank sein Glas leer und stellte es vorsätzlich mit Wucht auf die Theke. Ein großer, fast dreieckiger Splitter brach ab. »Sehen Sie?«, sagte er. »Ich hatte recht.«
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4
A m nächsten Morgen war De Reuse wortkarg. Auf der Fahrt zum Flughafen sprach er kaum drei Worte, was Jensen recht war, denn der Alkohol hatte ihm einen ohnmachtsähnlichen und dennoch unruhigen Schlaf beschert. Außerdem war ihm übel; er hatte zum Frühstück Orangensaft getrunken, um sich Vitamine zuzuführen, und danach eine Cola, um den Katerbrand zu löschen. Eine verheerende Kombination.
Es war neun Uhr und noch immer Nacht. Einmal erfassten die Scheinwerfer des Geländewagens, den De Reuse gemietet hatte, eine tote Möwe, sie lag mitten auf der Straße, und es wäre anständig gewesen, um sie herumzufahren. De Reuse aber nahm sie unter die Räder. Jensen dachte, dass diese Möwe vermutlich ein Opfer der Dunkelheit war. Jetzt im Winter blieb den Vögeln für die Nahrungssuchenur ein kurzes Zeitfenster, ein paar helle Stunden, und wenn sie nicht satt wurden, dehnten sie die Futtersuche wahrscheinlich in die Dämmerung hinein aus und prallten gegen schlecht beleuchtete Hausmauern oder Kamine.
Stijnen, dachte Jensen. Wenn ich zurückkomme, ist der Kamin fertig. Aber das Kind, das den Ausschlag gegeben hatte für den Bau dieses Kamins, gab es dann vielleicht schon nicht mehr. Chorionzottenbiopsie. Das Wort repetierte sich in Jensens Gehirn von selbst, wie eine Melodie, die man nicht loswurde. In seinen Därmen grollte der Orangensaft.
»Können Sie sich noch an Ihr Versprechen von gestern Abend erinnern?«, fragte De Reuse, als sie in der Empfangshalle des Flughafens auf die beiden anderen warteten.
»Sie meinen die Gletschertour?« Daran erinnerte er sich natürlich, nicht aber an ein Versprechen.
»Kein Wort darüber zu Ilunga! Sie halten doch Ihre Versprechen, Jensen? Sie sind ein Mann, dem man trauen kann? Ich hoffe nicht, dass ich mich in Ihnen geirrt habe.«
»Es bleibt unter uns.«
»Sehr gut!« De Reuse belohnte ihn mit einem väterlichen Schulterklopfen; Jensen hustete in die Hand, um sein Lachen zu verbergen. Ein altmodischer Mensch, das war es. De Reuse war ein zutiefst altmodischer Mensch. Schulterklopfen, ein Siegelring mit dem Familienwappen, die Seemannsbekleidung, und in jedem Hafen eine Frau, und wenn es sich um eine Verwöhnte handelte, lockte man sie auf einen isländischen Gletscher, damit sie dort lernte, mit dem Taschenmesser gefrorene Bohnen aus einer Konservendose herauszubrechen.
Jensen war jetzt gespannt darauf, die Frau kennenzulernen, die sich das gefallen ließ. Eine Assistentin, Doktorandin vermutlich: Sie war also bestimmt dreißig Jahre jünger als De Reuse. Ilunga Likasi, wahrscheinlich war sie afrikanischer Abstammung. Unter den Ankommenden, die die Zollschranke passierten, entdeckte er aber keine Frau, auf die die
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