Der Assistent der Sterne
Jensen, hier im Gang: Er drehte sich um und sah ein Gesicht, aus dem eine Faust hervorschnellte.
Der erste Schlag erzeugte ein Bild. Annick, sie stand vor ihrem Haus, Blut tropfte aus ihrem Unterleib auf den Schnee.
Der zweite Schlag löschte das Bild aus.
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27
D ie Metallplatte. Es durfte keine da sein. Keine Metallplatte im Kopf. Er tastete seinen Schädel ab, die Finger durften nichts Kühles, Hartes, aber auch nichts allzu Weiches finden. Das Gehirn gehörte in die Schale. Die Schale musste hart sein und warm. Knochen und Haut, nur das durften die Finger ertasten. Keine Metallplatte, nichts Kaltes. Eine Schlägerei, ein Fußtritt gegen den Kopf, komplizierte Frakturen, die Ärzte setzten einem eine Metallplatte ein. Die Metallplatte führte zu Wesensveränderungen.
Die Ganglien, was war das?
Er wusste es nicht.
Parasympathikus.
Lyrisches System? Das war falsch.
Aber die Ganglien konnte er sehen, ihre Tüllgewänder wehten im Wind, sie umschmeichelten seinen Kopf. Alles war richtig, es war hart, und es war warm. Der Schmerz stammte nicht von der Metallplatte. Unten, dachte er. Der Schmerz steckte unten, im Mund. Die Zunge, eine aufgeklappte Kröte, entlang der Körperachse halbiert, Jensen schluckte das Blut. Die Haare der Ganglien glänzten in der Sonne, sie verfingen sich in den Ästen einer Birke, eine Forelle sprang ans Ufer. Ihr Mund öffnete sich lautlos.
Er schlug die Augen auf. Seine Zunge schmerzte. Sie war trocken und wund. Jensen erinnerte sich an die Metallplatte, an seine Furcht, er hatte sich den Schädel abgetastet, das war lange her. Er hatte von einer erstickenden Forelle geträumt, vom kühlen, feuchten Innern ihres Mauls. Er richtete sich auf, ein glühendes Eisen im Nacken. Die Übelkeitkam überraschend, er erbrach sich auf seine Füße. Der Unterkiefer war nur ausgerenkt, nicht gebrochen, andernfalls wäre das Erbrechen sehr viel schmerzhafter gewesen.
Auf der Pritsche lag eine Wolldecke, Jensen strich sich damit den Mund sauber. Es war ein fensterloser Raum, über der Tür glomm ein Nachtlicht. Und keine Schuhe. Sie hatten ihm die Schuhe und die Socken abgenommen.
Jensen stand von der Pritsche auf, er trat in sein Erbrochenes, er spürte es zwischen seinen Zehen. Es war heiß in dem Raum, es stank nach Schmieröl und Magensäure, aber es gab ein kleines Waschbecken. Jensen war durstig, ausgedörrt, er brauchte Wasser, er drehte den Hahn auf, füllte die Hände und trank daraus; den metallischen Beigeschmack des Wassers ignorierte er. Er wusch sich das Gesicht und erwartete, Blut zu sehen, aber das Wasser blieb klar, soweit er das im Halbdunkel erkennen konnte. Der Schaden schien sich auf Zunge und Kiefer zu beschränken. Jensen bewegte den Kiefer vorsichtig, das Bild der Forelle vor Augen: Sie war an Land gesprungen und hatte langsam den Mund geöffnet. Der Kiefer ließ sich in jede Richtung bewegen, er war also nicht einmal ausgerenkt. Die Zunge hatte er sich während der Schläge zerbissen, aber Zungen heilten schnell. Jensens Speichel schmeckte nach Eisen, er spuckte frisches Blut ins Waschbecken, ein roter Fleck entstand.
Seine Zunge diente ihm als Uhr: Sie blutete noch, folglich waren seit den Schlägen höchstens zwei, vielleicht drei Stunden vergangen. Gegen Mitternacht war er ins Schiff eingedrungen, es war jetzt also drei oder vier Uhr morgens.
Er wischte mit der Wolldecke das Erbrochene weg und verstaute die Decke unter dem Waschbecken. Es gab ja zwei Möglichkeiten: Sie ließen ihn kurz vor Auslaufen des Schiffes frei. Oder sie nahmen ihn mit. In diesem Fall würdeer die Decke unter dem Hahn auswaschen oder sich an den Gestank gewöhnen. Er setzte sich auf die Pritsche und versuchte, regelmäßig und tief zu atmen. Unter keinen Umständen durfte er an Annick denken. Sie verlor das Kind, und er konnte nichts tun, folglich war jeder Gedanke daran schädlich. Sie wartete auf ihn, und er kam nicht, sie lag im Krankenhaus, Doktor Vermeulen heuchelte Mitgefühl, eine Fehlgeburt, und du bist nicht da, dachte Jensen, obwohl es doch schädlich war.
Er ging im Raum auf und ab, um die Verzweiflung abzuschütteln, die ihn an die Wände seiner Zelle schmieden wollte. Verzweiflung war der beste Kerkermeister.
Das weißt du doch, dachte er.
Ausbruchsversuche von Verzweifelten misslangen immer, denn die Verzweiflung gaukelte ihnen Möglichkeiten vor, die nicht existierten. Ohne Plan fielen sie über einen Wärter her, entrissen ihm die Waffe, rannten gegen Tore,
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