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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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alles darangesetzt, sie wieder einzufangen; vermutlich hatte sie es nicht einmal bis zum Landungssteg geschafft.
    Sie sitzt wieder in der Kammer hinter den Dosen, den Attrappen, du hast nichts erreicht.
    Der Kapitän wusste jetzt, dass man Miguel vertrauen konnte. Vernünftigerweise hatte er ihm die Bewachung des Eindringlings übertragen. Jensen griff in seine Hosentasche; er empfand eine übertriebene Freude über die Geldscheine, die noch da waren, zweimal fünfzig Euro, wenigstens das war ihnen entgangen. Er zog die Scheine heraus, seine kleinen Trophäen; es war doch aber viel zu wenig. Miguels Preis war gestiegen, von hundert Euro würde er sich nicht beeindrucken lassen. In der Gewissheit, dass der Versuch sinnlos war, ging Jensen zur Tür; er klopfte, mit den Fingerknöcheln.
    »Miguel?«
    Er schlug mit der flachen Hand gegen die Tür.
    »Miguel! Ich weiß, dass du da draußen bist! Mach die Tür auf. Ich will mit dir reden.«
    Das Nachtlicht machte ein Geräusch, es klang wie ein elektrisches Murren.
    »Miguel! Wenn du nicht mit mir sprichst, kann ich nichts mehr für dich tun. Meine Dienststelle weiß, wo ich bin. Dienststelle, verstehst du das?« Das Kaninchen aus dem Hut, dachte er. »Meine Kollegen, die Polizei. Sehr viele Polizisten. Sie werden das Schiff stürmen und mich befreien. Und dann muss ich ihnen sagen, dass du mich entführt hast, Miguel. Du wirst wegen Entführung eines Polizisten vor Gericht gestellt. Denn es gibt hier nur dich. Ich habe auf diesem Schiff niemanden gesehen, nur dich. Folglichhast du mich niedergeschlagen. Du hast einen Polizisten angegriffen, das kommt noch hinzu. Fünfzehn Jahre, Miguel. Fünfzehn Jahre Gefängnis. Aber wenn du …«
    Das Nachtlicht erlosch.
    In der Dunkelheit sah Jensen einen schemenhaften Lichtkreis, es war nur die Erinnerung seiner Augen an das Nachtlicht, und als sie verblasste, umfing ihn die vollkommenste Dunkelheit seines Lebens. Die absolute Abwesenheit von Licht, einen Moment lang faszinierte es ihn. Absolute Dunkelheit war eine seltene Erfahrung, denn in den Räumen, in denen Menschen sich üblicherweise aufhielten, gab es doch immer eine Ritze, durch die ein wenig Licht fiel: ein Vorhangspalt, ein Schlüsselloch, eine Fuge unter einer Tür. Es genügte schon das Licht der Sterne, des Mondes, einer entfernten Straßenlampe, um die vollkommene Dunkelheit zu verhindern. Aber in diesen Raum hier gelangte kein einziges Photon, er war absolut lichtdicht. Das Nachtlicht bekam dadurch eine diabolische Bedeutung: Es war nicht einfach eine Lampe, es war ein Instrument, mit dem der, der Zugang zum Schalter hatte, mich, dachte Jensen, züchtigen oder belohnen kann.
    Jensen legte beide Hände auf die Tür. Dann drehte er sich um hundertachtzig Grad. Die Pritsche befand sich jetzt auf zehn Uhr.
    Nicht an Annick denken …
    Er ging in die Richtung, zehn Uhr, schräg links. Es war sogar einfach, er musste nur dem Geruch seines Vomitums folgen. Es gab zwei Geruchsquellen. Eine auf zehn Uhr bei der Pritsche, die andere auf drei Uhr, wo sich das Waschbecken befand, unter dem er die Wolldecke nach dem Aufwischen hingelegt hatte. Er stieß mit dem Schienbein gegen etwas Hartes, die Pritsche war erreicht.
    Ihr Idioten!, dachte er. Er lachte.
    Er legte sich auf die Pritsche und dachte über die verletzliche Stelle seiner Feinde nach. Es war richtig, sie Feinde zu nennen. Er war nicht als Polizist in Ausübung seiner Dienstpflicht hier, er wurde nicht aus beruflichen Gründen festgehalten. Wäre es so gewesen, hätte er sich den Luxus erlauben können, Miguel, den Kapitän und den Schläger Verdächtige zu nennen. Täter. Das war der eigentliche Sinn dieser staubtrockenen Wörter, die ihn in den vergangenen Tagen wieder heimgesucht hatten und die abzuschütteln so schwierig war: Es waren unpersönliche Begriffe, mit denen sich der Polizist die Verbrecher emotional vom Leib hielt, um an seinem Beruf nicht zugrunde zu gehen. Aber in Jensens Fall war die Grenze zwischen Dienstlich und Persönlich überschritten worden, und der Terminus für persönliche Widersacher lautete Feind. Folglich war auch eine andere Vorgehensweise nötig: Täter verhaftete man, Feinde aber wurden beseitigt. Dazu musste man ihren Schwachpunkt kennen.
    Und ihre verletzliche Stelle, dachte Jensen, bist du.
    Sie mussten ihn füttern. Lieber hätten sie ihn auf hoher See über Bord geworfen, aber das war zu riskant, solange sie seinen Status nicht kannten. Wer war er? Darüber zerbrach der Kapitän

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