Der Assistent der Sterne
angehaltenem Atem näherte Jensen sich der Tür. Er hatte bemerkt, dass sie nach außen aufging, das war sein einziger Vorteil. Wenn jemand den Raum verließ, konnte Jensen sich hinter der Tür verstecken und, falls eine Begegnung unausweichlich wurde, den Überraschungsmoment nutzen.
Theoretisch, dachte er.
Er drückte sich neben der Tür an die Wand und tat dasselbe wie immer: Er horchte. Er kam sich inzwischen vor wie ein verängstigtes kleines Säugetier, das mit ständig gespitzten Ohren um sein Leben bangte. Die Metallwände leiteten den Schall gut, Jensen hörte drinnen jemanden sprechen. Der Stimmlage nach war es ein junger Mann. Führte er Selbstgespräche? Es war nur diese eine Stimme zu hören. Nach einer Weile begriff Jensen, dass es ein Radio war. In dem Raum hielt sich also vermutlich nur eine Person auf, die schweigend dem Radiosprecher lauschte.
Und jetzt?
Den Raum stürmen? Die Person überwältigen, sie dazu zwingen, ihn zu Ilunga Likasis Verlies zu führen? In der Hauptrolle: Hannes Jensen, dachte er. Ohne Waffe kein Einsatz, dachte er. Er musste sich defensiv verhalten, alles andere wäre unvernünftig gewesen. Zehn Minuten, beschloss er, würde er hier ausharren und weiterhorchen, wiedas kleine Pelztierchen, als das er sich fühlte. Zweifellos war das nicht effektiv, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Auf dem Schiff herumirren konnte er noch lange genug.
Wieder drückte er sein Ohr an die Wand. Nessun dorma wurde gesungen, aber der Radiohörer da drin schien von Arien nichts zu halten; das Lied brach abrupt ab und wich atmosphärischem Rauschen. Eine Sängerin setzte zum Refrain an, auch das passte dem Zuhörer nicht, in schneller Folge ließ er die Sender paradieren, bis ein Rocksong aus den Siebzigerjahren endlich seinen Geschmack traf. Jensen hörte ihn mit hoher Stimme mitsingen: »Smoke on the water, fire …«
Ein Handy klingelte.
Direkt hier, unmittelbar bei Jensen, sein Herz machte einen Sprung. Hastig tastete er seine Skijacke ab, die Taschen waren alle leer, aber das verfluchte Klingeln wiederholte sich, in der Gesäßtasche seiner Hose, dort hatte sich das Ding versteckt. Er holte es heraus, es setzte zum dritten Klingeln an, in der Eile erwischte Jensen den falschen Knopf, aber das Klingeln hörte auf, nur das zählte. Sein Gefühl vorhin, als er zum Schiff aufgebrochen war, das Gefühl, etwas vergessen zu haben: Er hatte sein Handy nicht ausgeschaltet. Aber der Radiohörer schien nichts bemerkt zu haben, die Tür blieb zu, ein Geschenk der Rockmusik an Jensen. Puccinis Nessun dorma hätte das Klingeln nicht so vortrefflich übertönt wie Deep Purple.
Das Handy war aber noch eingeschaltet, und jemand wartete auf Antwort.
Es war Annick.
»Hannes«, sagte sie.
»Ich kann jetzt nicht«, flüsterte er. »Ich erkläre dir alles später. Ich muss auflegen.«
»Ich glaube, ich blute.« Ihre Stimme klang unpersönlich,so als spreche sie über jemand anderen. »Es schmeckt wie Blut. Aber ich bin nicht sicher.«
Jensen brachte kein Wort heraus. Das Gewicht der Welt drückte ihn nieder. Ihm wurde schwindlig.
»Komm«, sagte sie. »Bitte.«
Sie blutet, dachte er. Der Schwindel wirbelte seine Gedanken durcheinander, es fiel ihm schwer, den Anfang zu finden. Sie blutet.
»Was?«, flüsterte er. »Was blutet?«
»An den Beinen. Es rinnt mir an den Beinen hinunter. Und ich kann es nicht sehen. Hannes. Ich kann es nicht sehen! Bitte komm!«
»Ich bin bei dir«, flüsterte er. »In einer Stunde. Ich komme, das verspreche ich dir. Ruf den Arzt an.«
Das Kind, dachte er. Sie verliert das Kind.
»Du musst dich hinlegen«, flüsterte er. »Aber du musst den Arzt anrufen. In einer Stunde bin ich bei dir. Ich fahre sofort los. Ruf den Arzt an, hast du gehört?«
Die Tür ging auf, Jensen presste sich an die Wand.
»Ich liebe dich«, sagte er, es war jetzt nicht mehr nötig zu flüstern. »Es wird alles gut.« Er drückte die Taste, die Gespräche beendete, und nun blieb ihm noch genauso viel Zeit, seinen Dienstausweis hervorzuholen, wie der Mann brauchte, um ihn zu entdecken.
»Polizei«, sagte Jensen. Er streckte dem Mann den Ausweis hin.
Es war ein Bursche, fast noch ein Kind, und nicht besonders kräftig.
»Polizei«, wiederholte Jensen.
Der Bursche sprach beschwichtigend auf Jensen ein, der Ausweis machte ihm Eindruck, auf Spanisch rechtfertigte er sich; es waren Ausreden, Jensen merkte es, ohne ein Wort zu verstehen.
»You speak English?«
»Yes, yes!«, sagte der
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