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Der Assistent der Sterne

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Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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das Kind schon früh begreifen, spätestens dann, wenn sein Vater sich beim gemeinsamen Spiel nach dem Fußball bückte und hinterher nicht mehr gerade stehen konnte.
    »Möchten Sie dasselbe Zimmer wie letztes Mal?«
    Jensen nickte.
    »Darf ich Sie etwas fragen?«
    »Aber sicher«, sagte Van der Elst.
    »Wie alt sind Sie?«
    »Zweiundzwanzig.«
    »Und wie alt ist Ihr Vater?«
    »Er ist leider schon tot. Ja.« Van der Elst räusperte sich. »Er war achtundfünfzig. Es war ein Herzstillstand. Ja.«
    »Das tut mir leid«, sagte Jensen voller Selbstmitleid.
    Achtundfünfzig! Selbst wenn O’Hara und er das Kindgemeinsam aufzogen, wie er sich das wünschte, brach er womöglich am Abend vor der Einschulung tot zusammen, möglicherweise vor dem Kamin, den Hafner Stijnen ihm einbaute.

    Sein Zimmer roch nach Lavendel. Der Turm der Salvatorkirche stand schwarz gegen den Abendhimmel. Die Dächer schienen zusammenzurücken; da und dort wurde das Licht eingeschaltet.
    Der Lavendelgeruch war penetrant. Jensen öffnete das Fenster; er atmete die kalte Luft ein. Aber das genügte nicht. Und es lag auch nicht am Lavendel, es ging um einen vermuteten Geruch, von dem er befürchtete, dass er ihm noch anhaftete. Er roch an seinem Pullover. Es war der, den er zuletzt in Island getragen hatte. Mochte er auch nur nach Wolle riechen, so versteckten sich in den Fasern eben doch die Moleküle von gestern. Er zog den Pullover aus. Die Hose konnte er gleichfalls nicht anbehalten, auch sie hatte er gestern getragen. Die Socken, die Unterwäsche, alles war kontaminiert; er stopfte die Kleider in die Wäschebeutel des Hotels, von denen aber nur drei vorhanden waren. Das Fenster musste er jetzt schließen, denn er war nackt und fror. Er wählte die Nummer der Rezeption und bestellte bei Van der Elst zusätzliche Beutel. Er hatte das Bedürfnis, selbst seine Winterjacke und die Schuhe einem gründlichen Reinigungsprozess zu unterziehen. Genügte überhaupt eine Waschmaschine? War hier nicht vielmehr ein Feuer nötig? Es klopfte, Jensen zog sich den hoteleigenen Bademantel über. Van der Elst überreichte ihm gleich zehn Beutel, aber Jensen war sich jetzt sicher, dass er ein Klafter Holz und einen Kanister Benzin gebraucht hätte. Er steckte den Rest der Kleider in die Säcke und stellte sie vor die Zimmertür.
    Nachdem er lange geduscht hatte, fühlte er sich besser.Aber der Fleck am Hals war natürlich noch da. Im Spiegel betrachtete er ihn. Es war weniger ein Fleck als eine Wunde. Etwas größer als eine Walnuss. Die Frau hatte ihn blau, rot und grün gebissen. Es war ein veritabler Bluterguss, eine Handbreit über dem Schlüsselbein. Als sie ihm das zugefügt hatte, gestern Nacht, hatte er es, obwohl es schmerzhaft gewesen war, auf eine Weise genossen, als Ausdruck der Leidenschaft. Jetzt aber empfand er es als Unverschämtheit. Der Biss würde noch Tage, wenn nicht Wochen zu sehen sein. Sie hatte ihn markiert und damit gegen die Abmachung verstoßen. Sich nie wiederzusehen beinhaltete auch, dass nichts zurückblieb.
    Sein Handy klingelte.
    Jensen band sich das Badetuch um die Hüfte und ging ins Zimmer, um nachzusehen, wer ihn anrief.
    Natürlich war es O’Haras Nummer.
    Er hätte jetzt unmöglich mit ihr sprechen können.
    Morgen, dachte er.
    Im Moment war der Abstand zu Island noch zu gering. Aber morgen würden die Dinge weiter in die Ferne gerückt sein. In einer Woche wären sie vielleicht schon außer Sichtweite gewesen, aber so lange konnte er das Zusammentreffen mit O’Hara nicht hinauszögern. Ein weiterer Tag Abstand musste genügen.
    Und das wird auch genügen, dachte er.
    Er hatte die gestrigen Ereignisse genossen, spürte aber nicht das geringste Bedürfnis nach einer Wiederholung. Das Ganze war eine Art Naturphänomen gewesen, vergleichbar mit dem Auftauchen eines Wals während einer Schiffsreise auf dem Mittelmeer. Im Mittelmeer lebten keine Wale, und wenn trotzdem einer dort auftauchte, dann nur, weil auch für dieses Ereignis eine minimale Wahrscheinlichkeit bestand. Es wäre jedoch unvernünftig gewesen, wiederund wieder dieselbe Schiffsreise von Genua nach Zypern zu buchen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass man auf dieser Strecke in seinem Leben je wieder einen Wal sah, war gleich null.
    Erst dieser unvernünftige Wunsch nach einer Wiederholung, dachte Jensen, würde ein Geständnis nötig machen.
    Da also sein Interesse an Ilunga Likasi vollkommen erloschen war, vielmehr nur für den kurzen Augenblick des Phänomens

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