Der Assistent der Sterne
lüchtig küsste sie ihn auf die Wange.
»Es ist halb zehn«, sagte sie.
Ihre schwarzen Haare glänzten wie das Gefieder von Raben, ihre klugen Lippen, dachte er, schön und klug. Was immer in Island geschehen war, hier wog es nichts mehr, seine Schuldgefühle kamen ihm geradezu kleinlich vor.
»Ich hatte noch etwas zu erledigen«, sagte er. »Deshalb die Verspätung.« Er hatte das Hotel rechtzeitig verlassen, dann aber viel Zeit gebraucht, um einen Wollschal zu finden, Wintersachen waren in Brügge knapp geworden. Schließlich hatte er bei einem maßlos teuren Herrenausstatter einen Kaschmirschal gekauft, unter dem jetzt die Bisswunde pochte. Über Nacht hatte sie sich entzündet und dabei über den Hals ausgebreitet, sie war jetzt fast handtellergroß. An Ilunga Likasi dachte er jetzt nur noch wie an eine Krankheit; seine Empörung über ihren Biss wuchs mit dessen Ausmaßen.
»Ich hole meinen Mantel«, sagte O’Hara. »Warte hier.«
Sie ließ ihn unter der Tür stehen, unter dem Torbogen, der ihr Haus mit dem Nachbarhaus verband. Wenigstens war Jensen hier vor dem Schneeregen geschützt, der die Gassen von Brügge in Matsch verwandelte. O’Haras kühle Begrüßung, den beiläufigen Kuss erklärte er sich damit, dass die fünf Tage, die er weg gewesen war, ihm länger vorkamen als ihr. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit, dachte Jensen, hat eine physiologische Ursache. Jede Erinnerung wurde im Gehirn gespeichert und nahm folglich einen gewissen Raum ein. Wenn nun jemand, so wie er, in fünf Tagen sehr viel erlebt hatte, benötigte dessenGehirn, verglichen mit dem eines Menschen, der im selben Zeitraum weniger erlebt hatte, ein paar Millisekunden länger, um die gespeicherten Erinnerungen dieser fünf Tage abzurufen. Diese wenigen Millisekunden mehr führten dazu, dass Jensen die fünf Tage wie zwei Wochen vorkamen, während für O’Hara eben nur fünf Tage vergangen waren. Aus ihrer Sicht wäre ein anderer als ein flüchtiger Kuss übertrieben gewesen. Und zu Übertreibungen neigte sie nicht.
Durch den Türspalt konnte Jensen sehen, wie sie ihren Mantel anzog und über dem neuen Pullover zuknöpfte. Sie hatte ihn offenbar während seiner Abwesenheit gekauft. Hauteng, ein schreiendes Gelb, und noch dazu war der Pullover beschriftet: FIRST LOVE. Jensen konnte sich nicht vorstellen, dass sie beim Kauf über die Aufschrift Bescheid gewusst hatte; sie kleidete sich stets sehr sorgfältig, elegant, mit einem Stich ins Konventionelle. Natürlich war sie auf Beratung angewiesen, und hier schien der Verkäufer versagt zu haben. Vielleicht hatte es ihm auch gefallen, eine Blinde hinters Licht zu führen.
»Gehen wir«, sagte sie.
»Dieser Pullover«, sagte Jensen. »Den du da trägst.«
»Ja? Was ist damit?«
»Es steht etwas drauf.«
»Was?«
»First Love.«
Sie lachte.
»Gut, dass ich es nicht sehe«, sagte sie.
Sie fuhren auf der Ringstraße Richtung Kristus Koning. Jensen wischte mit dem Ärmel die beschlagene Windschutzscheibe trocken. Er hielt die Hand über die Lüftungsschlitze der Klimaanlage, aber sie schien defekt zu sein. Der Wagenwar zehn Jahre alt, ein Renault oder Peugeot, er konnte es sich nie merken.
»Trees wohnt an der Pleinstraat«, sagte O’Hara. In der Nähe des Schlachthauses. Weißt du, wo das ist?«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Er fand, dass sie bleich war, vielleicht aber auch nur im Kontrast zum schwarzen Ledermantel. Ihr Haar schimmerte, und er erinnerte sich, dass es sich wie Seide angefühlt hatte, in jener bisher einzigen Nacht.
»Ja«, sagte er. »Pleinstraat. Weißt du schon … wegen des Tests? Wann erfahren wir es?«
»In ein paar Tagen. Aber ich kenne das Ergebnis schon. Es ist merkwürdig, aber als ich nach dem Test das Krankenhaus verließ, spürte ich, dass das Kind gesund ist.«
Das glaubten schon viele zu spüren, dachte Jensen.
Sie griff nach seinem Arm, sie strich darüber, sie suchte seine Hand.
»Es ist schön, dass du wieder da bist«, sagte sie.
Er schaute sie an. Beinahe hätte er es ihr gestanden, jetzt, auf der Stelle.
»Ich bin auch froh«, sagte er, sein Hals war eng.
»übrigens wird Trees’ Mann auch da sein, Jorn. Er ist ein netter Kerl, aber er trinkt zu viel. Wahrscheinlich wird er betrunken sein, aber verlier darüber bitte kein Wort. Er war früher Lotse, im Hafen von Antwerpen. Nach einem Schlaganfall musste er seinen Beruf aufgeben. Kannst du dir vorstellen, was das für ihn bedeutet hat?«
»Für einen Antwerper Lotsen?
Weitere Kostenlose Bücher