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Der Assistent der Sterne

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Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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kein einziges Mal angeblickt. Sie konzentrierte sich auf Annick, seine verwundbare Stelle. Darüber ließ sie ihr Fleisch kalt werden, ein Entrecôte an Pfeffersoße, ein Gericht, das er selbst niemals bestellt hätte.
    »Und was führt sie aus Brügge hierher in die große Stadt?«
    »Wir warten auf jemanden«, sagte Annick.
    »In Antwerpen oder hier im Reaal?«
    »Es dürfte ja wohl klar sein, was ich gemeint habe.«
    Endlich, dachte Jensen. Endlich bot Annick ihr die Stirn.
    »Piet!« Ilunga Likasi winkte einem Kellner, der gerade an ihrem Tisch vorbeieilte, vier Teller balancierte er auf seinen Armen; er beträufelte die Speisen mit seinem Stirnschweiß. »Die Herrschaften möchten bestellen.«
    Der Kellner reagierte nicht.
    »Wie spät ist es?«, fragte Annick Jensen.
    »Fünf vor eins.«
    »Siehst du sie?«
    »Nein.«
    »Warten Sie auf jemanden?« Ilunga Likasi schabte mit der Gabel die Pfeffersoße vom Fleisch. Sie leckte die Gabel ab, auf vulgäre, lächerliche Weise, um Jensen an die Nacht zu erinnern, er schaute weg.
    »Ja«, sagte Annick. »Wir warten auf jemanden. Auf die Tochter meiner Freundin. Sie kommt immer freitags hierher. Essen Sie oft hier?«
    »Ich bin Stammgast. Wie heißt denn Ihre Freundin? Vielleicht kenne ich sie.«
    »Ihr Name ist Vera. Vera Lachaert.«
    Auf dem Nebentisch stand eine Rotweinflasche. Jensen fixierte einen Buchstaben des Etiketts, das R für Rioja. Er verengte seine Wahrnehmung auf diesen Buchstaben. Das linderte sein Schwindelgefühl.
    »Vera!«, hörte er Ilunga Likasi sagen. »Sie warten auf Vera? Die Tochter von Trees Lachaert?«
    »Dann kennen Sie sie?«
    »Sie sitzen auf ihrem Platz. Ich war mit ihr verabredet. Kommen Sie, lassen Sie uns darauf anstoßen, dass die Welt so klein ist!« Sie goss Annicks Glas bis zum Rand mit Wein voll und schob es ihr zu, der Wein schwappte über. »DasGlas steht direkt vor Ihnen«, sagte sie. »Aber stoßen Sie es nicht um, das bringt Unglück.«
    Annick tastete nach dem Glas und hielt es hoch, aber inzwischen hatte Ilunga Likasi ihres schon geleert und auf den Tisch zurückgestellt.
    »Zum Wohl«, sagte Annick mit erhobenem Glas. Die Likasi schlug mit dem Stiel ihrer Gabel dagegen.
    »Auf unsere gemeinsame Freundin Vera«, sagte sie. »Die uns beide versetzt hat. Wir wollten uns heute hier zum Essen treffen. Aber vor einer halben Stunde ruft sie mich an. Ihr Liebster hat sie zu einem Sandwich bei sich im Schlafzimmer eingeladen. Das war ihr natürlich wichtiger, ein Dreiminutenessen.«
    »Kommt sie dann vielleicht später noch hierher?«, fragte Annick.
    »Ich wusste gar nicht, dass sie mit Ihnen auch verabredet war. Sie hat mir nichts davon erzählt.«
    »Sie weiß nicht, dass wir hier sind. Ich kenne Vera nicht persönlich. Aber es wäre sehr wichtig gewesen … Ich muss dringend mit ihr sprechen. Ihrer Mutter geht es gesundheitlich nicht gut. Ich weiß nicht, ob Vera mit Ihnen darüber gesprochen hat. Über das Zerwürfnis zwischen ihr und ihrer Mutter?«
    Der Kellner unterbrach das Gespräch, er wollte die Bestellung aufnehmen. Annick fragte ihn nach den Hauptspeisen, und während er sie aufzählte, dachte Jensen über die zwei Zufälle nach. Der eine war erklärbar. Antwerpen war, entgegen der Ansicht seiner Bewohner, eben doch nur eine mittelgroße Stadt und der Groenplaats einer der wenigen zentralen Orte. Es war fast unvermeidlich, dass man jemandem, dem man aus dem Weg gehen wollte, am Groenplaats oder in der Meir, der wichtigsten Einkaufsstraße, wiederbegegnete, wenn nicht in einem Monat, dann ineinem Jahr. Es hatte also eine bezifferbare Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass er Ilunga Likasi in diesem zentral gelegenen Bistro begegnen würde. Der zweite Zufall, ihre Freundschaft mit Vera Lachaert, wirkte zunächst erstaunlicher als der erste. Aber genau betrachtet war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei in Antwerpen lebende Frauen gleichen Alters, beide afrikanischer Herkunft, miteinander befreundet waren, sogar noch höher als die eines Wiedersehens im Gouden Reaal.
    Annick bestellte ein Currygericht.
    »Und was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Kellner.
    »Ein Mineralwasser«, sagte Jensen.
    »Sonst nichts? Na wunderbar.« Für den Kellner war Jensen jetzt unsichtbar.
    »Nur ein Mineralwasser?«, fragte Ilunga Likasi, sie warf Jensen einen steinernen Blick zu. »Ich hätte wetten können, dass Sie ein Champagnertrinker sind.« Ihre Stimme klang drohend. »Sie wollten von mir wissen«, wandte sie sich an Annick, »ob

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