Der Assistent der Sterne
fünfzehn Monate alt war, adoptiert hat. Veras Eltern waren in Lubumbashi, im Kongo, von Straßenbanditen umgebracht worden, und …«
»Kein Wort davon ist wahr. Haben Sie etwas zum Schreiben?«, fragte sie Jensen. »Einen Stift? Einen Kugelschreiber?«
Jensen reichte ihr seinen Filzstift, ungern, denn es war ein besonderer Stift, mit einer dünnen, schmalen Schreibfeder; bei richtiger Federführung ergab sich ein nahezu kalligraphisches Schriftbild. Und was wollte sie überhaupt damit, ein Protokoll führen?
»Danke«, sagte sie. »Also, Annick. Hören Sie mir zu. Vera ist ein Adoptivkind. Nur das stimmt an der Geschichte. Ihre Eltern sind nicht im Kongo umgekommen, weder der Vater noch die Mutter. Aber das wusste Vera nicht. Ihr ganzes Leben lang ist sie von Trees und Jorn belogen worden. Sie glaubte tatsächlich, sie sei ein Waisenkind aus dem Kongo. Vor etwa fünf Jahren zog sie nach Antwerpen, und hier lernten wir uns kennen. Damals kannte sie die Wahrheit noch nicht, sie hat ihre Eltern jedes Wochenende besucht, sie war eine artige Tochter. Sie hat ihrem Vater, wenn er besoffen nach Hause kam, die Schuhe ausgezogen und ihn ins Bett gebracht, sie hat seine Kotze aufgewischt. Ich fragte sie, Vera, warum tust du das, und sie sagte, essind meine Eltern, ich bin ihnen dankbar, sie haben mich aus dem Kongo herausgeholt, ich bin ihnen etwas schuldig, ich liebe sie. Sie hat sie wirklich geliebt, sogar ihren Vater. Sie wissen, dass er ein Säufer ist?«
»Ja«, sagte Annick.
»Vor zwei Jahren war Vera mit ihm allein im Haus, an einem Samstagabend. Er war stockbesoffen. Er fiel vor ihr auf die Knie und heulte. Er jammerte ihr die Ohren voll. Dass er es nicht mehr aushalte, dass sie jetzt die Wahrheit erfahren müsse, weil er bald sterben werde. Er sagte ihr, der Arzt habe eine schwere Leberzirrhose diagnostiziert, und bevor er diese Erde verlasse, wolle er reinen Tisch machen. Diesen Abend werde ich nie vergessen, Annick.«
Ilunga Likasi schrieb etwas auf den Notizblock, sie schrieb und redete gleichzeitig. »Vera hat mich angerufen. Sie hat geweint, geschrien, sie war mit den Nerven am Ende. Sie bat mich, sie in Brügge abzuholen, sie könne nicht mehr Auto fahren. Sie habe auf dem Kopf ihres Vaters eine Flasche zertrümmert. Bitte hol mich, sagte sie, er stirbt, bitte hol mich. Es war dann aber gar nicht so schlimm, jedenfalls nicht für ihn. Ich bin sofort nach Brügge gefahren, und als ich das Haus betrat, saß ihr Vater in der Küche und soff, das Blut rann ihm über die Stirn. Vera hockte neben ihm auf dem Boden. Sie hatte ein Küchenmesser in der Hand und sagte immer nur, ich bringe ihn um, ich bringe ihn um. Zwei Tage später hat sie mir dann erzählt, was ihr Vater ihr im Suff gestanden hat. Sie wissen, dass er früher Lotse war, hier im Hafen?«
»Ja. Das weiß ich.« Annick war bleich geworden, sie begann plötzlich zu essen, hastig, sie schaufelte den kalten Reis in sich hinein, die Currysoße tropfte vom Tellerrand.
»Der gute Jorn«, sagte Ilunga Likasi, »hat es mit einer Putzfrau getrieben. Sie arbeitete im Verwaltungsgebäudeder Hafenaufsicht. Eine junge, schöne, schwarze Frau. Er konnte sich an ihren Namen erinnern, denn er hat seinen Schwanz mehr als einmal in sie gesteckt. Sie hieß Maria Likasi.«
An einem Tisch hinter ihnen brach Gelächter aus.
Likasi, dachte Jensen. Annick verstand es schneller als er. Während er sich noch fragte, ob Jorn mit der Mutter von Ilunga Likasi ein Kind gezeugt hatte, sagte sie: »Das ist Ihre Mutter, nicht wahr? Und Sie sind Vera.«
Ilunga Likasi ging nicht darauf ein, sie sagte: »Maria Likasi wurde schwanger. Es war ein Wunder. Wer hätte gedacht, dass Alkohol eine Eizelle befruchten kann! Jorn Lachaert spritzte Gin in sie hinein, und neun Monate später stellte sich die Frage, wohin mit dem Balg? Jorn Lachaert war nämlich verheiratet, mit seiner Trees. Sie verlangte von ihm, dass er an jedem geraden Datum mit ihr schlief, am zweiten, am vierten, und so weiter.« Ilunga Likasi riss einen Zettel vom Notizblock. »Aber es klappte nicht. Trees wurde nicht schwanger. Sie wusste, warum, und Jorn wusste es auch: Sie war unfruchtbar, ihre Eier waren alle faul, es lag ein ärztliches Gutachten vor. Aber trotzdem musste Jorn sie an jedem zweiten Tag bespringen, sie gab die Hoffnung nicht auf. Sie hätte mit dem Teufel ein Kind gezeugt, so sehr war sie vom Wunsch besessen, einem Kind an seinem Bettchen die Tarotkarten zu legen und es, wenn die Karten ungünstig
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