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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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waren, in die Arme zu nehmen und zu sagen: Hab keine Angst, mein Liebling. Du wirst nicht sterben, das verspreche ich dir. Sie war abergläubisch, sie legte sich beim Ficken ein Hasenfell auf den Bauch, denn es musste ein Kind her, unbedingt. Und dann hatte Jorn plötzlich eins, von einer Negerputze. Als sie schwanger geworden war, hatte Jorn ihr ein paar Scheine in den Ausschnitt gesteckt, damit sie seine Vaterschaft verheimlichte. Abtreibung kam für ihn nicht in Frage, denn der Zorn Gottes ist für Jorn ein echtes Problem. Trees wollte ein Kind, und Gott verlangte Buße für die Unkeuschheit. Also kaufte er Maria Likasi das Kind ab, er gab ihr Geld, damit sie es zur Adoption freigab. Maria Likasi war neunzehn Jahre alt, sie war arm, sie hatte ein sieben Tage altes Kind von einem Mann, den sie nicht liebte. Also willigte sie ein. So einfach war das.«
    Ilunga Likasis Augen flackerten. Sie starrte Annick an, voller Hass.
    »So einfach«, wiederholte sie.
    »Und Ihre Mutter?«, fragte Annick leise. »Haben Sie Kontakt zu ihr?«
    »Maria Likasi starb im Alter von zweiundzwanzig Jahren an einer Hirnblutung. Sie ist tot. Und niemand hat zwei Mütter. Meine einzige Mutter ist tot. Eine Vera Lachaert gibt es nicht mehr. Richten Sie das Ihrer Freundin aus. Mit einem schönen Gruß von mir, von Ilunga Likasi.«
    Sie gab Jensen den Stift zurück. Und dann hob sie mit zwei Fingern den Zettel hoch, langsam, auf fast rituelle Weise. Sie hielt ihn Jensen vors Gesicht, zu nahe, er sah nur verschwommene Linien. Ihre Erzählung hatte ihn trotz allem berührt, und so spielte er das Zettelspiel mit. Er nahm ihr den Zettel aus der Hand und betrachtete ihn aus größtmöglicher Distanz. Es waren vier oder fünf Zeilen, das immerhin erkannte er, aber sie waren klein geschrieben, in einer geradezu knausrigen Handschrift. Selbst mit ausgestreckten Armen konnte er die Schrift nicht entziffern. Es war dumm, den Kauf einer Lesebrille dauernd hinauszuzögern, jetzt rächte es sich. Beunruhigt darüber, dass er nicht wusste, was darauf stand, schob er ihr den Zettel über den Tisch zu.
    »Behalten Sie ihn«, sagte Ilunga Likasi.
    »Nicht nötig«, sagte er.
    »Wie Sie wollen.« Sie steckte den Zettel in ihre Handtasche. »Piet!« Sie winkte dem Kellner. »Die Herrschaften möchten bezahlen.«
    »Vera«, sagte Annick. »Ich wusste das nicht … wirklich … wenn ich es gewusst hätte …«
    Ilunga Likasi stand auf, und als sie an Jensen vorbeiging, beugte sie sich über sein Ohr.
    »Drei Tage«, flüsterte sie.
    Er wusste nicht, was sie damit meinte, natürlich nicht, es bezog sich bestimmt auf die Zettelbotschaft. Es war ihm egal, er war gerettet, nur das zählte. Sie hatte geschwiegen. Dichtgehalten. Er schaute ihr nach; sie warf sich im Gehen den Mantel über. Ein Mann, der gerade das Lokal betrat, hielt ihr die Tür auf. Durch die Fensterscheibe des Bistros sah Jensen Ilunga draußen am Rembrandt-Denkmal vorbeigehen; ein Schwarm Tauben teilte sich vor ihr.
    »Geht alles auf eine Rechnung?«, fragte der Kellner.
    »Ja«, sagte Jensen. Als er wieder aus dem Fenster schaute, war Ilunga Likasi verschwunden. Für immer, dachte er.

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    18
    S chweigend gingen sie zum Wagen. Ein Strafzettel klebte hinter dem Scheibenwischer. Jensen steckte ihn ein, immerhin war der Wagen nicht abgeschleppt worden.
    Sie setzten sich hinein.
    »Geht es?«, fragte er.
    Annick kurbelte das Fenster hinunter. Sie hielt mit einer Hand ihre Brille fest, beugte sich aus dem Fenster und erbrach sich. Ein kurzer Stoß nur, dann war es vorbei. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie sich über den Mund. Sie warf es aus dem Fenster und sagte: »Fahr los.«
    Sie atmete schwer, ihr Gesicht war weiß, sie lehnte den Kopf auf die Nackenstütze.
    Jensen fuhr auf der Schnellstraße, entlang der Schelde. Im Tunnel beschlug die Scheibe gefährlich, er wischte sie mit dem Ärmel trocken.
    »Halt an!«, sagte Annick.
    »Das geht hier nicht, wir sind im Tunnel.«
    Er sah, dass sie es im Mund behielt, und als er nach dem Tunnel an einer Bushaltestelle anhielt, weil das der erstbeste Ort war, stieß sie die Wagentür auf und spuckte alles den Wartenden vor die Füße.
    Er fuhr weiter. Nach einer Weile sagte sie: »Das hätten sie nicht tun dürfen. Das hätten sie einfach nicht tun dürfen.«
    »Nein«, sagte Jensen. Er war aber noch gar nicht dazu gekommen, sich darüber eine Meinung zu bilden. Im Augenblick war er nur einfach heilfroh, dass das Zusammentreffen zwischen Ilunga

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