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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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angenehme Gefühle weckten, Sicherheit, Geborgenheit, was auch immer, entstand bei ihm lediglich ein Gefühl der Langeweile, der Begrenztheit, er sah eine monotone Reihe kleiner Einfamilienhäuschen vor sich, in deren Hobbyräumen im Keller die Väter heimlich soffen. Was auch immer die Beatles sangen, es löste bei ihm stets diese Bilder der Trostlosigkeit aus. Er sah die Väter in den Hobbykellern vor einem zerfledderten Herrenmagazin sitzen, die Hand im Schritt, unentschlossen, ob sie onanieren oder sich mit der Kleinkaliberpistole, die sie sich zum Schutz vor Einbrechern gekauft hatten, eine Kugel in den Schädel jagen sollten. Aber Annick sah bei »Roll up, roll up for the mystery tour« etwas ganz anderes, vielleicht ein fernes Meer, vielleicht ein verregnetes Schloss, in dem einem Geister um die Beine strichen, vielleicht sah sie den Papst, der sie segnete, er wusste es nicht, das war ja das Problem. Er konnte sich nicht erklären, was ihr an dieser Musik gefiel. Es war, musiktheoretisch gesehen, Kammermusik, basierend auf Belcanto und korrekt gestimmten Instrumenten. Im Gegensatz dazu die Rolling Stones! Wild Horses!, Tumbling Dice!, Lieder, deren Ästhetik auf dem Badcanto und minimal verstimmten Instrumenten beruhte, die Zertrümmerung der Kammermusik. Musik, die ihnferne Meere sehen ließ und ihm das Gefühl gab, ein toller Kerl zu sein. Unterschiedlicher hätten die Welten nicht sein können. Dass Annick zehn Jahre jünger war als er, machte alles noch unverständlicher: Sie war in den Achtzigerjahren aufgewachsen, aber die damals zeittypische Musik schien sie nicht zu interessieren. Das CD-Regal in ihrem Haus am Kortewinkel war nur zu einem Viertel gefüllt, denn für ein ganzes Regal reichte die Produktion der Beatles nicht aus. Hatte ihre Vorliebe für die Beatles vielleicht etwas mit John zu tun? John war älter gewesen als sie, womöglich hatte er ihr die Beatles beigebracht.
    »Was gefällt dir eigentlich an dieser Musik?«, fragte Jensen. Er setzte den Blinker, ein Lastwagen musste überholt werden.
    »Willst du es genau wissen?«, fragte sie.
    »Unbedingt.«
    »Ich kann mich dabei entspannen. Es ist freundliche Musik. Sie verlangt nichts von mir. Es ist gefällige Musik, aber nicht banal. Eigentlich ist es eine Art …«, und dann sagte sie: »… Kammermusik.«
    »Das ist das Wort«, sagte er. Er spürte eine Wärme in der Herzgegend. Ihr Zentrum war das Brustbein, und von dort verbreitete sie sich über seinen ganzen Oberkörper. Er hatte das bisher stets für eine sinnentleerte Redensart gehalten: Aber ihm wurde tatsächlich warm ums Herz. Er sagte nichts mehr, er schwieg und genoss dieses Gefühl der Erfülltheit. Das gemeinsame Haus, gleich morgen würde er mit der Suche beginnen. Dieses Gefühl, das er spürte, brauchte einen Ort, an dem es sich einnisten konnte. Es musste ein altes Haus sein, aber stattlich, zwei Stockwerke, Erker, eine mit Efeu bewachsene Südfassade. Mit dem Geld aus dem Verkauf ihrer beiden Häuser konnten sie sich vielleicht sogar etwas in der Nähe des Minnewater-Parksleisten, Zimmer mit Blick auf den Kanal, Sommerabende auf dem Balkon, das Rascheln der Platanen, das Gelächter der Kinder, die im Park spielten, das Summen einer Mücke und Marleen, die von unten heraufrief: Aber es ist doch noch gar nicht spät!
    Eine Katze, dachte er, ich will eine Katze. Ich will werden wie Stassen.

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    17
    U m die Mittagszeit erreichten sie Antwerpen. Jensen stellte den Wagen in der Nähe des Groenplaats vorschriftswidrig ab, halb auf dem Gehsteig, bedenklich nahe bei den Straßenbahnschienen. Aber Annick drängte zur Eile, komm jetzt, ich übernehme die Parkbuße, such das Bistro, es heißt Gouden Reaal, sind wir schon am Groenplaats, siehst du das Gouden Reaal?
    »Ja«, sagte Jensen. »Wir sind da. Und ich sehe es.« Das Bistro befand sich hinter dem Rembrandt-Denkmal, vor dem Jensen stehen blieb. Rembrandt trug eine Schneekappe.
    »Der Entdecker des Lichts«, sagte Jensen.
    »Wer?«
    »Rembrandt. Er erkannte als Erster den Unterschied zwischen Helligkeit und Licht.«
    Wie immer, wenn er nervös war, zog ihn das Nebensächliche an. Vera Lachaert, gleich würde er ihr begegnen, der geheimnisvollen Frau, dem Hirngespinst Lulambos.
    »Brueghel hat Licht noch als bloße Helligkeit empfunden, aber Rembrandt …«
    Annick versetzte ihm einen leichten Stoß.
    »Geh hinein«, sagte sie. »Ich folge dir. Schau dich um. Wenn du Vera siehst, sag es mir.«
    »Ich kenne den

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