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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Likasi und Annick nicht eine katastrophale Wendung genommen hatte. Es war geradezu erstaunlich, wie glimpflich es für ihn ausgegangen war.
    »Ich verstehe es nicht«, sagte Annick. »Normalerweise ist es doch genau umgekehrt. Eltern adoptieren ein Kind und verschweigen ihm dann, dass sie nicht die richtigen Eltern sind. Das kann man verstehen, es ist für das Kind vielleicht besser. Aber Trees und Jorn haben Vera verschwiegen, dass ihr Adoptivvater ihr leiblicher Vater ist. Etwas Schlimmeres hätten sie Vera gar nicht antun können. Ihr eigener Vater hat sich nicht zu ihr bekannt, er hatmit ihr gelebt, er hat sie großgezogen, sie hat ihn geliebt, gerade weil sie glaubte, dass er nicht ihr richtiger Vater ist und sich trotzdem um sie kümmert … Kannst du dir einen schlimmeren Betrug vorstellen? Jorn hat seine eigene Tochter verleugnet, und Trees hat es gewusst und geschwiegen. Diese Bastarde!«
    Jensen zuckte zusammen. Bastarde, ein solches Wort hörte er aus Annicks Mund zum ersten Mal.
    »Vera hat völlig recht«, sagte sie. »Sie hat ihren Namen abgelegt, völlig zu Recht. Es gibt keine Vera mehr. Denn es gibt auch keinen Jorn und keine Trees mehr. Sie hat recht: Von solchen Leuten muss man sich trennen.«
    Sie schwieg.
    Nach einer Weile sagte sie: »Und Trees! Kannst du das verstehen, Hannes? Ich nicht. Wie kann Trees allen Ernstes glauben, dass Vera … nein, Ilunga Likasi sich mit ihr je wieder versöhnen wird! Ist Trees dumm? Kann das sein, habe ich das auch nicht gemerkt? Versöhnung ohne Vertrauen, das ist unmöglich. Und wie sollte man denn jemandem vertrauen, der einen siebenundzwanzig Jahre lang belogen hat? Mich hat Trees nur ein halbes Jahr lang belogen, und zwar nach Strich und Faden, und dieses halbe Jahr reicht mir schon: Ich könnte ihr nie mehr vertrauen. Nie mehr!« Annick schlug mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe. »Und weißt du, was mich am meisten ärgert, Hannes? Dass ich es nicht gehört habe. Ich höre es sonst immer, wenn jemand lügt. Die Stimme verändert sich, es gibt Brüche in den Schwingungen, die Stimme wird morsch, wurmstichig. Aber bei Trees habe ich es nicht gehört. Auch bei Jorn nicht. Die ganze Zeit über nicht. Ich glaube, ich weiß, woran das liegt: Sie haben Vera jeden Tag belogen, sie haben die Nachbarn, den Postboten, die Lehrer, die Verwandten belogen, und am Schluss haben sie ihre Lüge selbst geglaubt. Aberich habe es noch aus einem anderen Grund nicht gehört. Ich mochte die beiden. Und wenn ich jemanden mag, werde ich taub, ich Idiot!« Sie saß aufrecht da, mit den Fäusten auf den Knien.
    Und es gab noch etwas, das sie nicht bemerkt hatte. Es wurde Jensen in diesem Moment bewusst. Die Erkenntnis trieb ihm die Hitze ins Gesicht.
    »Und was wirst du jetzt tun?«, fragte er. Ihm versagte die Stimme, er musste sich räuspern. »Möchtest du, dass ich dich zum Sint Jan bringe, wenn wir in Brügge sind?«
    Sie wandte ihm ihr Gesicht zu.
    »Hast du mir nicht zugehört? Trees hat mein Vertrauen missbraucht. Sie hat mich belogen, sie hat mich hintergangen, ich will mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ich ertrage das nicht, Hannes. Das war schon immer so. Wenn mich jemand belügt, darauf bin ich allergisch. Ich meine das wörtlich. Als ich achtzehn war, hat meine erste große Liebe mich verraten. Er machte mit einer anderen Petting. So nannte man das damals, Petting. Und als er es mir Wochen später gestand, bekam ich einen Ausschlag, am ganzen Körper, rote Pusteln, überall. Ich kratzte sie auf, sie bluteten. Nach drei Tagen löste sich mir im Gesicht die Haut ab, ganze Fetzen lagen im Waschbecken. Es war keine Allergie auf seine Untreue, es war nicht Eifersucht. Dass er diese andere gestreichelt hatte, war mir egal. Was mich krank machte, war, dass er es mir nicht sofort danach gestanden hat. Er hat es mir wochenlang verheimlicht. Aber auch schon ein Tag wäre zu viel gewesen. Er hätte es mir sofort sagen müssen. Bevor er mich küsste, bevor er mit mir schlief und mir sagte, dass er mich liebt. Ich habe kein Wort mehr mit ihm gesprochen, es war aus. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen, er war für mich gestorben.«
    »Vielleicht hat er es dir aus Angst verschwiegen. Er hatte Angst, dich zu verlieren.«
    »Natürlich. Aber genau deshalb hat er mich verloren. So wie Jorn und Trees jetzt auch. Soll ich sie zur Rede stellen, soll ich das tun? Dann würden sie vielleicht alles bereuen. Und vielleicht sollte ich ihnen dann verzeihen. Aber ich kann solchen Menschen

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