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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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nur um dann hinter Wolken zu verschwinden. Eine Schneekruste bedeckte die Dächer.
    »Gut«, sagte Stassen. »Gut geht es mir. Gut. Und dir?«
    »Auch gut. Ich wollte dich übrigens auch anrufen. Ich dachte, wir könnten wieder einmal ein Bier trinken, im Celtic Ireland.«
    »Warum nicht. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich anrufe. Ich bin im Dienst.«
    »Am Wochenende?« Jensen gähnte. »Du schiebst Pikett-Dienst? Hast du dich mit Dupont angelegt?«
    »Nein. Der Hoofdcommissaris und ich sind beste Freunde. Wie Herr und Hund. Nein, ich war einfach an der Reihe.«
    »Na gut. Dann vielleicht morgen Abend?«
    »Was?«
    »Morgen Abend im Celtic Ireland.«
    Stassen schwieg einen Moment.
    »Ja, vielleicht. Morgen Abend. Wenn alles gut geht.«
    »Wenn was gut geht?«
    »Das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Können wir uns in einer halben Stunde treffen? Sint-Michiels-Kirche, hinten auf dem Friedhof, beim Friedhofswärter-Häuschen?«
    Jensen lachte.
    »Nimmst du mich auf den Arm? Warum denn auf dem Friedhof?«
    »Hör zu, Hannes. Ich muss dich wirklich bitten, zu kommen. Es ist dringend. Aber erzähl niemandem davon. Es muss unter uns bleiben.«
    »Warum denn? Was ist passiert?«
    »In einer halben Stunde am vereinbarten Ort. Bis dann.«
    Stassen legte auf.
    Jensen kam es vor, als sei soeben ein Zug in hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeigerast. Er stand da, barfuß, und starrte auf das Handy, mit der Bitte um eine Erklärung.
    Ich muss dich wirklich bitten, zu kommen …
    Das klang nach einer freundschaftlich formulierten Vorladung. Aber warum? Er dachte nach, über mögliche Verfehlungen. Eine unbezahlte Parkbuße? Aber deswegen hätte Stassen ihn doch nicht zu einem klandestinen Treffen aufgefordert. Es musste sich um etwas Gravierendes handeln. Etwas Persönliches? Es machte keinen Sinn, darüber zu spekulieren, er musste sich entscheiden: Annick oder Stassen.
    Er rief sie an.
    »Würde es dir etwas ausmachen«, fragte er, »wenn ich erst um ein Uhr komme? Stassen hat mich angerufen, ein Freund. Wir haben zusammengearbeitet. Er will mich treffen, er sagt, es sei dringend. Aber um ein Uhr bin ich bei dir.«
    »Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es nicht an«, sagte sie.

    Für eine Dusche fehlte die Zeit, Jensen fühlte sich in seinen Kleidern klebrig. Er wickelte sich den Wollschal um den Hals, und bevor er das Zimmer verließ, steckte er die Tube, die er gestern auf den Fernseher gelegt hatte, in seine Tasche. Lesebrillen wurden in der Vlamingstraat verkauft, in einem Optikergeschäft, an dem er nach dem Treffen mit Stassen vorbeikommen würde, auf dem Weg vom Friedhof zu Annick.
    Draußen herrschte winterliche Wärme. Erstmals seit Wochen durfte man den Reißverschluss der Winterjacke auf Brusthöhe hinunterziehen. Es war sogar nötig, jedenfalls wenn man, wie Jensen, in Eile war und zwei Schritte auf einmal nahm. Auf dem Marktplatz begann er unter seinen Kleiderschichten zu schwitzen; die feuchten Pflastersteine glänzten im Sonnenlicht, ein feenhafter Dampf stieg von ihnen auf. In der Zuidzandstraat musste Jensen einer Frau ausweichen, die mit geschlossenen Augen auf dem schmalen Gehsteig stand und ihr Gesicht der Sonne entgegenstreckte.
    Die halbe Stunde war um. Jensen schätzte, dass er sich um zehn Minuten verspäten würde, die Sint-Michiels-Kirche lag eben doch ein gutes Stück außerhalb der Altstadt. Stassen rief ihn an, er war ein Pünktlichkeitsfanatiker.
    »Wo steckst du?«
    »Ich bin unterwegs. In zehn Minuten bin ich bei dir. Hetz mich nicht.«
    »Ich warte hier schon seit fünf Minuten.«
    »Ich kann nicht fliegen.«
    »Nein. Aber Auto fahren. Ich höre doch, wie du atmest. Du kommst zu Fuß. Warum nicht mit dem Wagen? Dann wärst du pünktlich gewesen.«
    »Ich bin ja gleich da.«
    Jensen legte auf. Er rannte ein Stück, nicht übermäßig schnell, es war nur ein moderater Laufschritt. Im Gegensatz zu Stassen nahm er es anderen nicht übel, wenn sie sich verspäteten. Sich selbst aber schon. Er hasste es, zu spät zu kommen, er empfand es als Versagen. Er hatte diesmal einfach den Weg unterschätzt, aber dank seines körperlichen Einsatzes erreichte er das Eisentor des Sint-Michiels-Friedhof mit geringerer Verspätung als befürchtet. Er gönnte sich jetzt einen Moment der Ruhe und Betrachtung. Jensen mochte diesen Friedhof, weil die Vergänglichkeit sich hier nicht hinter Plastikblumen versteckte, jedenfalls nicht im historischen Teil, in dem die Grabsteine sich im Verlauf der

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