Der Assistent der Sterne
Jahrhunderte dem Wind gebeugt hatten. Die Namen der Toten hatte der Regen aus dem Stein gewaschen;Flechten überwucherten die Jahreszahlen, von denen einige in eine Zeit zurückführten, in der junge Barone an der Cholera gestorben waren. Grafen ruhten unter zerborstenen Grabplatten, über die nach einem Fußballspiel im nahen Jan-Breydel-Stadion manchmal betrunkene Anhänger der Verlierermannschaft stolperten, um in ihrer Verzweiflung Grabsteine umzuwerfen.
Im vorderen, neuen Teil des Friedhofs lag Margarete, aber heute war nicht der Tag. Der Grabbesuch war Jensen nur noch einmal im Jahr, an ihrem Todestag, erlaubt. Jensen hatte sich diese Regel, wie die meisten in seinem Leben, selbst auferlegt. Viele Jahre lang hatte er jede Woche, immer dienstags, an ihrem Grab gestanden, zuerst aus Trauer. Dann war es ihm zur trotzigen Gewohnheit geworden, dem Tod zum Trotz. Schließlich hatte er erkannt, dass er sich hinter dem Grab verschanzte: Es sollte ihn vor einem Neubeginn schützen.
Hinter zwei hohen, gerundeten Grabsteinen im historischen Teil winkte Jensen jemand zu. War es Stassen? Jensen winkte zurück und dachte: Das ist doch unmöglich. Es war Stassen, aber in den vier oder fünf Monaten seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich vollkommen verändert: Er war fett geworden. Es war nicht einfach nur Weihnachtsspeck, es war eine Verwandlung. Stassens grauer Wintermantel spannte sich um seinen Leib wie der Kokon eines Engerlings kurz vor der Metamorphose. In wenigen Wochen würde der Mantel platzen, und ein endgültig neuer, in zentimeterdicken Fettschichten eingesperrter Stassen würde die Welt betreten. Jensen versuchte, sich auf die zweite, unverfänglichere Merkwürdigkeit zu konzentrieren: Stassen war im Dienst, das hatte er am Telefon ja erwähnt. Aber trug keine Uniform.
Der Kies knirschte unter Jensens Schuhen.
»Da bist du ja endlich!« Stassen schien auch kleiner geworden zu sein, aber dieser Eindruck entstand wohl durch die veränderten Proportionen. Wie war es nur möglich, dass jemand in fünf Monaten so dramatisch zunahm!
»Schön, dich zu sehen«, sagte Jensen.
Sie schüttelten sich die Hand.
»Du meinst wohl, schön, so viel von mir zu sehen.« Stassen lächelte sparsam. Er strich sich eine Locke aus der Stirn; seine Haarpracht war ihm geblieben, üppiges, dunkles und glänzendes Haar. Wie das eines italienischen Tenors, hatte Jensen früher jeweils gescherzt, und nun hatte sich Stassens Umfang der Metapher angeglichen.
»Ja«, sagte Jensen. »Du hast tatsächlich ein bisschen …«
»Das weiß ich selbst. über die Fetten können wir ein andermal reden. Jetzt geht es um dich.«
Stassen schaute sich um.
»Man kann uns von der Straße aus sehen«, sagte er. »Dort ist es besser.« Er berührte Jensen kurz am Arm, eine Aufforderung, ihm zu folgen, in eine Ecke der Friedhofsmauer.
»Verstecken wir uns hier?«, fragte Jensen.
»Scheiße«, sagte Stassen.
»Was?«
»Scheiße. Aber ich muss das tun. Ich muss dir jetzt eine Frage stellen. Und ich muss dich bitten, sie wahrheitsgemäß zu beantworten.«
»Bittest du mich als Freund oder als Polizist? Frans, jetzt komm schon. Was soll das alles?«
»Kennst du eine Frau namens Vera Lachaert?«
»Ach!« Jensen entfuhr ein bitteres Lachen. »Fängt das also wieder an! Warum? Warum fragst du mich das?«
»Kennst du sie? Sie nennt sich auch Ilunga Likusi.«
»Likasi«, korrigierte Jensen. »Likasi. Herrgott noch mal!«
»Du kennst sie also.«
»Ja, zum Teufel!« Warum ließ sie ihn nicht endlich in Ruhe!
»Und woher kennst du sie?« Stassen zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Manteltasche. »Ich muss dich das fragen, ich muss mich absichern, verstehst du? Ich muss sicher sein, dass ich das Richtige tue.« Er zündete sich eine Zigarette an, mit einem Streichholz, und blies den Rauch steil nach oben. »Ja, ich habe angefangen zu rauchen«, sagte er. »Also. Woher kennst du die Frau?«
»Island. Ich war mit ihr in Island. Mit einer Gruppe. Sie, ich, ihr Freund und noch jemand. Warum interessiert dich das, Frans? Würdest du mir das bitte endlich erklären.«
»Island.« Stassen betrachtete seine Zigarette, verwundert, so als habe sie ihm jemand zwischen die Finger geschoben. »Und was habt ihr da gemacht, in Island?«
»Es war ein Privatseminar. Ich hatte an der Volkshochschule an einem Physikkurs teilgenommen, und der Kursleiter …«
»Und in Island, hast du dort mit ihr sexuellen Kontakt gehabt? Wie das klingt! Ich meine, hast du
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