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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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es Jensen.
    Der Zettel aus dem Gouden Reaal. Jensen erkannte ihn am Schriftbild, an der Anzahl der Zeilen und daran, dass er, so wenig wie gestern, auch nur ein Wort entziffern konnte.
    »Ja«, sagte er. »Ich kenne diesen Zettel. Und jetzt sag mir, was da steht.«
    »Mach es mir nicht noch schwerer«, sagte Stassen. Er riss Jensen das Blatt aus der Hand.
    »Ich kann das nicht lesen. Herrgott noch mal, Frans! Jetzt lies es mir doch einfach vor! Ich habe keine Lesebrille. Ich brauche eine, aber ich habe keine. Ich konnte das schon gestern nicht lesen, gestern Mittag. Sie hat mir diesen Zettel hingehalten, und ich konnte ihn nicht lesen. Hier«, sagte Jensen. Er griff in seine Tasche und holte die Tube hervor, die Salbe, er sagte: »Hier. Siehst du? Das trage ich bei mir, damit es mich daran erinnert, dass ich mir endlicheine Lesebrille kaufen muss.« Er wusste, wie eigenartig das klang, egal, es war sowieso alles eigenartig. »Und jetzt lies mir vor, was sie geschrieben hat. Ich bitte dich.«
    »Das wird dann aber der letzte Gefallen sein, den du von mir erwarten kannst. Du Dreckskerl. Das steht da. Du Dreckskerl. Erinnerst du dich an unsere Nächte in Island? Du hast mir erzählt, dass du mich liebst, und ich habe dir geglaubt. Du wolltest mich heiraten, und jetzt erfahre ich, dass du eine Freundin hast. Du bist ein verlogenes Schwein. Ich werde …«
    »Was denn für Nächte!«, rief Jensen. »Es gab keine Nächte. Es gab nur eine Nacht. Und heiraten? Ich habe nie von Heirat gesprochen! Das ist doch vollkommener Unsinn!«
    »Aber das steht da.«
    »Dann steht es eben da. Aber das bedeutet doch nicht, dass es auch stimmt. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Zettel zerrissen.«
    »Aber du hast ihn ihr zurückgegeben.«
    Natürlich, dachte Jensen. Ich habe ihn ihr zurückgegeben.
    »Und jetzt sind meine Fingerabdrücke darauf«, sagte er; seine Gedanken verließen ihn, da war nur noch Leere.
    »Richtig.« Stassen klopfte ihm auf die Schulter, Jensen nahm es wahr, ohne es zu verstehen. Warum klopfte er ihm auf die Schulter, warum lachte er plötzlich.
    »Nimm’s mir nicht übel«, sagte Stassen. »Aber ich musste das tun. Ich musste mir sicher sein, dass ich dir trauen kann.«
    »Was? Was musstest du tun?«
    »Du solltest dir wirklich eine Lesebrille anschaffen. Wenn du gewusst hättest, was auf dem Zettel steht, hättest du ihn behalten. Vor allem, wenn du vorgehabt hättest, ihr etwas anzutun. Richtig? Du hast ihn ihr aber zurückgegeben. In meinen Augen entlastet dich das. Und im Augenblick hängt alles von mir ab. Nicht, dass ich mich darum gerissen hätte. Es hat sich so ergeben, ich erkläre es dir gleich. Auf dem Zettel steht natürlich etwas anderes. Ich wollte nur ganz sicher sein, dass du ihn wirklich nicht gelesen hast. Also. Da steht: Ruf mich an. Ich gebe dir drei Tage Zeit. Wenn du mich bis dann nicht … gefickt hast … das steht so da … werde ich deine blinde Freundin in unser Geheimnis einweihen.« Jensen hatte das Gefühl, als würde aus seiner Brust etwas entweichen, als seien Herz und Magen Schwämme, die ausgedrückt wurden; er atmete tief ein, um festzustellen, ob er überhaupt noch frei atmen konnte.
    »Die Antwerper haben mir den Brief vor einer Stunde gefaxt«, sagte Stassen. »Denn hier am Rand, siehst du? Kannst du das sehen? Da steht eine Telefonnummer.«
    Jensen starrte auf das Blatt.
    »Es ist eine Brügger Nummer«, sagte Stassen. »Deshalb haben die Antwerper Kollegen mich gebeten, herauszufinden, wem sie gehört. Du weißt ja, interprovinziale Zusammenarbeit. Sie wollen, dass ich die Person, zu der diese Nummer gehört, vernehme. Es ist eine Festnetznummer, eingetragen auf Annick O’Hara, Kortewinkel 7.«
    Stassen schnippte die Zigarette über die Friedhofsmauer.
    »Sagt dir der Name etwas?«
    »Ja.«
    »Du hast mir vor Monaten einmal von ihr erzählt. Erinnerst du dich?«
    »Ja.«
    »Kurz nachdem du den Dienst quittiert hast. Du sagtest, du seist in Mexiko gewesen, mit einer Frau, einer Blinden. Du hast es nur beiläufig erwähnt. Aber als ich vorhin dieNummer überprüft habe, konnte ich mich an den Namen erinnern. O’Hara. Ich weiß noch, dass ich mich damals fragte, ob das schottisch ist. Bist du mit ihr zusammen? Ist es etwas Ernstes?«
    »Es ist irisch. Es ist etwas Ernstes.«
    Jensen schaute hinüber zu der Krähe, die auf dem Grabstein einen Flügel spreizte und ihren Schnabel zwischen die Federn schob. Es war wohltuend, ein Wesen zu betrachten, das sich einfach nur

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