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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Lichtpunkte vor Jensens Augen.
    »Schalten Sie die Lampe wieder ein«, sagte er. Er tastete nach dem Spaten, den er in der Nähe hingelegt hatte.
    »Vor drei Monaten«, sagte De Reuse, »habe ich mich dazu entschlossen, Ilunga das Leben zu nehmen.«
    Jensen stand auf.
    »Geben Sie mir die Taschenlampe!«
    »Ich hatte vor, es in Island zu tun. Auf dem Langjökull.Aber das haben Sie verhindert, Jensen. Und dann erinnerte ich mich an diesen Ort. Ich fand, dass er einer Gletscherspalte nahezu äquivalent war, er besitzt dieselben Vorzüge. Ich hätte Ilunga getötet und sie dann hier hingebettet, zur letzten Ruhe. Die Verwesung hätte natürlich Moleküle freigesetzt, die der Nase eines Hundes nicht entgangen wären. Aber versetzen Sie sich in die Lage eines Hundebesitzers, Jensen. Sie spazieren mit Ihrem Liebling durch dieses Wäldchen, und plötzlich springt der Hund zu dem Flurkreuz und beginnt unter den Füßen des Herrgotts zu scharren. Selbst wenn Sie nicht gläubig sind, werden Sie das Gescharre nicht tolerieren, denn es ist doch immerhin ein Kreuz. Sie werden den Hund wegpfeifen, und er wird Ihnen gehorchen und Ihnen nach Hause folgen, in die warme Stube. Aber warum liegt Ilunga jetzt nicht hier, Jensen? Aus einem einfachen Grund, und Sie kennen ihn: Sie haben es in Island verhindert, und Sie haben es in Antwerpen ein zweites Mal verhindert.«
    De Reuse schaltete die Taschenlampe wieder ein. Er richtete sie auf den Boden, es sah aus, als sitze er an einem erstarrten Lagerfeuer.
    »Wissen Sie, wie ich mich fühle, Jensen? Als hätten Sie sich an meiner Stelle einer lebenswichtigen Operation unterzogen. Ich war krank, aber operiert wurden Sie. Und nun lebe ich, und Sie, Sie sehen schlechten Zeiten entgegen. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Mitleid, Jensen. Die Analogie mit der Operation habe ich mir übrigens reiflich überlegt. Es trifft den Kern exakt. Einem Herzkranken macht es keine Freude, sich ein Spenderherz implantieren zu lassen. Aber er weiß, dass es notwendig ist. Es hätte mir keine Freude bereitet, Ilunga zu töten, aber es ging um mein Leben. Ich hatte keine Wahl. Das hat mich in den vergangenen Wochen am meisten gequält:diese Ausweglosigkeit, das Wissen darum, dass nur diese eine Tat mich erlösen konnte. Mir blieb einfach nichts anderes übrig. Ich sank auf die Stufe eines Hundes herab, der nicht anders kann, als dem Stock nachzurennen, den man ins Feld wirft. Und jetzt stellen Sie sich vor, Jensen, Sie wissen, dass Sie jemanden töten müssen, unbedingt, es ist unausweichlich. Sie würden es aber lieber nicht tun. Sie gäben alles dafür, wenn Sie es nicht tun müssten. Sie lesen in der Zeitung, dass ein Kind überfahren wurde, und Sie geraten in Rage. Sie empfinden es als in höchstem Maße ungerecht, dass dieses Kind überfahren wurde und nicht die Person, die Sie umbringen müssen. Warum wird nicht sie von einem Lastwagen niedergewalzt? Warum erkrankt nicht sie an einem inoperablen Gehirntumor? Warum stürzt nicht sie von der Leiter, wenn sie eine Glühbirne auswechselt? Das geschieht doch täglich, Jensen. Täglich sterben so viele gute, anständige, wertvolle Menschen, aber ausgerechnet diese eine Person scheint unsterblich zu sein. Dadurch kommt Ihnen der Tod aller anderen plötzlich unerträglich sinnlos vor. Aber dann«, sagte De Reuse, »dann, Jensen, geschieht es doch noch. Das Wunder. Ein Polizist klingelt an Ihrer Tür und teilt Ihnen mit, dass Sie erlöst sind. Sie müssen die Person nicht mehr töten. Denn jemand anders hat das für Sie getan. Dieses Gefühl, Jensen. Es ist, als würden Engel Sie hochheben.« De Reuse nickte. Er starrte in den Lichtkegel der Taschenlampe. »Engel, Jensen. Es ist nämlich mehr als die übliche Erleichterung, die man empfindet, wenn man noch einmal davongekommen ist. Es ist Erlösung.«
    De Reuse löste einen Knopf seiner Weste, schob die Hand darunter, und im nächsten Moment sah Jensen eine Pistole.
    Kleinkaliber, dachte er. Eine Walther. Dieses Modell hatte er kürzlich erst gesehen. In dem Film, dachte er. In dem Film, den er sich mit Annick angeschaut hatte, am Tag vor seiner Abreise nach Island.
    »Die ist nur zu meinem Schutz.« De Reuse hielt die Pistole nachlässig in der Hand, die Mündung auf den Boden gerichtet. »Ich kann mir einfach zu gut vorstellen, wie Sie sich jetzt fühlen. Sie fühlen sich betrogen. Sie haben Ilunga getötet, und jetzt erfahren Sie, dass das nicht nötig gewesen wäre. Hätten Sie nur ein paar

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