Der Atem der Angst (German Edition)
war Konrads Schuld gewesen. Hätte er seinen kleinen Bruder damals, wie verabredet, mit in die Stadt genommen, wäre er nicht mit den jungen Leuten aufs Plateau hinaufgestiegen, die alle älter waren als er und von denen er sowieso nur eine kannte: Birgit. Ein warmherziges, etwas schüchternes Mädchen, die Gero bei den Schulaufgaben geholfen hatte. Sie hatte ihn mitgenommen, damit er an diesem heißen Sommertag nicht alleine zu Hause blieb. Und die anderen hatten zur Bedingung gemacht, dass er das Gewehr seines Vaters mitnahm, wenn er mit ihnen gehen wollte. Und er hatte es getan. Um groß zu tun. Zuerst hatten sie ihn gefeiert, als einen wagemutigen Helden, der ein gefährliches Spielzeug mitbrachte. Dann schossen sie auf leere Getränkedosen, später auf weiter entfernte Ziele. Sie schossen ins Wasser. Und schließlich nahm einer von ihnen das Gewehr und schoss auf ein Lebewesen, das im Bikini vor ihm wegrannte.
Nur so, aus Spaß.
Nur, um zu sehen, wie es war, ein Mädchen anzuschießen, wie es strauchelte, wie es fiel, wie es schrie. Ohne groß darüber nachzudenken. Nur, um einmal zu erfahren, wie es sich anfühlte, ein wirkliches Lebewesen zu verwunden. Nicht, um es zu töten. Nur, um zu sehen, wie das Geschoss in den Körper einschlug. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Es war dieser kleine Augenblick, der alles verändert hatte,– der Augenblick, in dem dieser Jugendliche, von dem Konrad bis heute nicht wusste, wer es war, das Gewehr genommen, geladen, angelegt und gezielt hatte. Dieser kurze Moment der totalen Unbewusstheit, in der eben solche Dinge geschahen, die man nicht wiedergutmachen konnte. Die einen bis zum Ende des Lebens verfolgten. Von denen man sich wünschte, dass man sie nie begangen hätte.
Da niemand die Tat zugeben wollte, niemand zu seiner Verantwortung stand, niemand offen aussprach, was dort oben passiert war, war es sein kleiner Bruder, der benommen nach Hause kam. Die Clique hatte ihm verboten, auch nur ein Wort zu sagen, um sein Herz zu erleichtern. Diese unglaubliche Schuld am Tod eines Mädchens, den Gero indirekt herbeigeführt hatte, war zu viel für ihn gewesen.
Am Abend hatte er mit hängendem Kopf am Küchentisch gesessen. Hatte keinen Ton von sich gegeben. Normalerweise war er fröhlich gewesen, hatte alles freiheraus erzählt. Seine Mutter, sein Vater und Konrad. Sie alle hatten gemerkt, dass etwas nicht mit ihrem Jüngsten stimmte. Aber was es war, hätten sie nie geahnt. Immer wieder musste Gero das sterbende Mädchen vor sich gesehen haben. Wie sollte auch ein zwölfjähriger Junge solch ein Geschehnis, für das er sich noch dazu verantwortlich fühlte, tragen? Zwei Tage hatte er es durchgehalten, dann, als die Polizei die gesamte Gegend nach Birgit durchkämmte, hatte er aufgegeben und sich im Garten hinter dem Sägewerk erhängt. Im Morgengrauen. Seinem Abschiedsbrief verriet er, was geschehen war, ohne dass er Namen nannte. Er war das Einzige, was der Familie von Gero geblieben war. Ihre Mutter war daran zerbrochen. Der Vater hatte weitergemacht, bis zu dem Tag, an dem die Cliquenmitglieder eigene Kinder hatten. Da hatte er herausfinden wollen, wer es von ihnen gewesen war. Er hatte einfach nur ein Geständnis gewollt, damit die Sache ruhen konnte. Nichts weiter. Nur einen, der sich endlich schuldig bekannte. Und der sich dann für alle anderen opferte. Denn einer musste für das Geschehene büßen, oder etwa nicht?
So hatte sein Vater gedacht und am Ende doppelt gebüßt. Er hatte Isabel nicht töten wollen. Wirklich nicht. Es war ein Unfall gewesen. So wie Unfälle eben passieren auf der Welt. Durch Unachtsamkeit, Übermut, Selbstüberschätzung und überschäumende Wut.
63 . MAYA
» Okay. Was sagt uns dieser Abschiedsbrief?« Maya hielt das gefaltete Papier noch immer in der Hand und blickte Louis abwartend an.
Dieses Mal hockten sie hinter der Blumenhandlung auf Holzkisten. Es war nicht ganz leicht, in St. Golden geeignete Verstecke zu finden. Die Stadt war verwinkelt, aber wenn man nicht gesehen werden wollte, führte das nur dazu, dass man fürchtete, hinter jeder Ecke könnte jemand lauern. Es dämmerte. Die Luft war feucht und kroch ihnen von unten in die Hosenbeine. Mayas Magen knurrte. Sie war kurz davor, sich an den Blumenabfällen satt zu essen, die sich neben ihnen in Pappkartons türmten. Louis gähnte. Im Schein der Hinterhoflaterne sah er mit seiner geschwollenen Nase aus wie die Kreuzung aus einem Koala und einem Nasenbären. Maya musste
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