Der Atem der Angst (German Edition)
bewusstlos in die Kiste gehoben wurde. Wir vermuten, dass der Täter nicht allzu stark war, beziehungsweise irgendwie gehandicapt.«
» Du meinst, der Täter hatte eine verkrüppelte Hand?«
» Ja, so könnte es sein.«
» Gibt es auch noch eine andere Erklärung?«
» Das frage ich dich.«
» Du bist die Kommissarin.« Konrad lehnte sich zurück und sah Heidi eindringlich an. » Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge ansieht. Bekanntlich hat die Medaille immer auch noch eine Kehrseite. Alles kann so oder so gewesen sein.«
» Was meinst du mit Medaille? Hat es etwas mit den Turnwettkämpfen der beiden Mädchen zu tun? Beide sind einen Tag vor den Wettkämpfen verschwunden.«
Konrad schüttelte unwillig den Kopf. » Du nimmst die Dinge immer zu wörtlich. Sieh hinter die Begriffe. Sie sind nur Symbole.«
Heidi blinzelte. Etwas in ihr sagte ihr, dass sie komplett auf dem Holzweg war. Sie hatte hier den Falschen sitzen. Mit einem Mal wusste sie es ganz genau. Dies war ein Spiel. Ein Spiel, das sie nicht verstand. Ihre Stimme klang brüchig, als sie fragte: » Was willst du von meinem Sohn?«
Er lächelte. » Das weißt du nicht, Heidi?«
61 . LOUIS
» Und was sagen wir, warum wir hier sind?« Maya sah sich ängstlich in der gläsernen Empfangshalle des Pflegeheims um. Hinter den bis zum Boden reichenden Fenstern fiel im Park das orangefarbene Laub von den Bäumen. Die rötliche Nachmittagssonne brach durch die Zweige. Die Türen, die von den langen Gängen abgingen, waren alle geschlossen. Es herrschte gespenstische Stille. Es war, als würde hier kein Herz mehr schlagen. Als befänden sie sich in einem Gebäude voller toter Menschen.
Hinter dem halbrunden Empfangstresen war der Platz nicht besetzt. Louis beugte sich darüber. Sein Blick glitt über die Karteikästchen, den Stiftebecher, die Telefonanlage und das Besucherbuch. » Na, dass wir unseren Großvater besuchen.«
Irgendwo hallten Schritte. » Ich glaube, da kommt jemand«, flüsterte Maya.
» Bleib ruhig. Ich gucke nur schnell, wo er liegt. Weißt du noch, wie die Familie mit Nachnamen hieß? Stand da nicht irgendwas auf dem Pick-up?« Seit Easy ihnen erzählt hatte, dass sie den alten Sägewerker hier finden würden, wollte Louis nur eines: Endgültig rausfinden, was damals passiert war. Eilig zog er das dicke, in dunkelblaues Leder eingebundene Buch über den Tresen und schlug es an der Stelle auf, in der ein Lesebändchen steckte.
» Ich glaube, die hießen Bohm oder so.« Maya trat neben ihm unruhig von einem Bein aufs andere. Die Schritte wurden lauter. » Beeile dich!«
Louis blätterte die dünnen Seiten des Buches durch, bis er den alten Bohm gefunden hatte. Darunter stand eine Liste seiner Besucher aus der letzten Zeit. An einem der Namen blieb er hängen. » Ich fasse es nicht!« Ungläubig starrte er darauf, was jemand dort mit Kugelschreiber eingetragen hatte. Es war sein Familienname. Und auch die Handschrift kam ihm bekannt vor. Es war die seiner Mutter.
» Was denn?« Maya drehte sich schon wieder um. Wo immer Gefahr bestand, dass irgendwer sie sah, wurde sie nervös. Aus den Augenwinkeln sah Louis, wie am Ende des langen Gangs eine Schwester auftauchte. Maya zog an seinem Jackenärmel. » Lou! Bitte! Da kommt jemand!«
Louis klappte das Buch wieder zu und legte es ordentlich zurück. Dann griff er nach Mayas Hand, während er freundlich der Schwester zuwinkte. » Komm! Ich weiß, wo er liegt. Wir müssen nur den Gang da runter und dann in Zimmer 214.«
Sie liefen an all den geschlossenen Zimmertüren vorbei. » Und was fasst du nicht?«
Am Ende des Flurs zog Louis Maya hinter einen großen, eingetopften Gummibaum, der zwischen zwei Zimmertüren stand. » Frag mich nicht wieso, aber meine Mutter war vor einer Woche hier und hat ihn besucht.«
» Deine Mutter? Was wollte die denn hier?« Mayas Augen schossen den gebohnerten Gang hinunter.
Louis senkte seine Stimme ab. » Keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass sie ihn kannte!« Überhaupt konnte er sich nicht erinnern, dass seine Mutter sich in den letzten Jahren jemals weiter weg bewegt hatte als bis ins Nachbarhaus zum Haareschneiden. Oder zum Kiosk Bier holen. Oder spät nachts in die Billardkneipe, einen Tischler abschleppen. Alle anderen Besorgungen hatte Louis erledigt. Jetzt fragte er sich, ob er sich da nicht täuschte? Was hatte seine Mutter getan, wenn er in der Schule war? Hatte sie wirklich die ganze Zeit über ferngesehen? Er konnte es kaum erwarten, den
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