Der Atem der Angst (German Edition)
sie etwas verbergen.
» Habt ihr irgendwas gehört? Einen Hinweis? Eine Ahnung?«
» Nein, Lou.« Sie schüttelte langsam den Kopf. » Nichts.«
Er atmete tief durch, um nicht allzu hoffnungslos auszusehen. Er wollte männliche Zuversicht ausstrahlen. » Wie geht es dir?«
Michelles sonst so seidiges Haar hing in stumpfen Strähnen um ihr Gesicht herum. Normalerweise verwendete sie viel Zeit darauf, perfekt auszusehen. Perfekt gebogene Wimpern. Perfekt gewelltes Haar. Perfektes Outfit. Jetzt steckte sie in einer Art hellrosa Frotteesack, der irgendwann mal ein Bademantel gewesen sein musste. Der Nagellack auf ihren Fingernägeln war abgeplatzt. Sie zuckte mit den Schultern, ihre Stimme zitterte. » Beschissen. Es ist, als hätte sich Nini in Luft aufgelöst. Die Polizei hat überall gesucht.«
» Ich weiß. Ich habe den Hubschrauber letzte Nacht gehört.«
» Ich habe so Angst, dass sie auch…«
Michelle zögerte. Unsicher sah sie Louis an. » Verzeih, ich…«
» Ja?« Er wusste genau, worauf sie hinaus wollte. Tagelang hatten sie damals gehofft, dass die Polizei seine kleine Schwester finden würde. Das Warten hatte seine Eltern und ihn unendlich viel Kraft gekostet, mehr Kraft, als sein Vater gehabt hatte. Als die Polizisten dann vor ihrer Tür standen, um die unfassbare Nachricht zu überbringen, war das, als würden seine Mutter und er von einem riesigen Asteroiden getroffen. Damals hatte Louis alle seine Gefühle in sich eingeschlossen, damit sie nie wieder Macht über ihn bekamen. Wie in einen Tresor aus Stahl. Eigentlich hatte er ihn nie wieder öffnen wollen. Aber wenn er Michelle jetzt helfen wollte, dann musste er sie erzählen lassen. Egal, wie sehr ihn das quälte. Er durfte jetzt nicht an sich denken. » Was?«
» Lou.« Michelle kaute an ihrem Fingernagel. » Ich weiß nicht, ob ich das mit dir besprechen soll…«
» Alles sollst du mit mir besprechen.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich bin dein Freund.«
» Ja, aber vielleicht gibt es Dinge, die ich besser allein mit mir abmachen muss.«
» Wieso? Denkst du auch, ich hab was mit Leonies Verschwinden zu tun?«
» Nein!« Michelle sah ihn erschrocken an. » Wer denkt das denn?«
» Na, dein Vater. Er hat mir gedroht, mich umzubringen, wenn ich damit etwas zu tun haben sollte.«
Michelle sog Luft durch die Nase ein. » So ein Blödsinn! Mein Vater spinnt. Du kennst ihn: Er braucht für alles einen Sündenbock. Außerdem dreht er gerade durch vor Sorge.« Michelle lächelte, aber in ihren Augen glitzerten Tränen. » Ich… Ich will dich da nur nicht mit hineinziehen. Du hast damals schon genug aushalten müssen.«
Louis wendete sein Gesicht ab und starrte konzentriert auf den schmalen Lichtbalken zwischen Türrahmen und windschiefer Tür. » Ja, vielleicht.« Er räusperte sich. Es tat weh. Er würde jetzt nicht heulen. Er würde stark sein. » Aber ich will für dich da sein.« Er drehte den Kopf wieder in ihre Richtung. » Bitte schließ mich nicht aus.«
» Danke, Lou.« Michelle küsste seine Hand. » Ich weiß, du hasst es, an damals erinnert zu werden.«
» Ja.« Louis straffte sich. » Aber das ist was anderes. Ich will alles mit dir teilen. Verstehst du? Egal, wie weh es tut. Egal, wie viel Angst es macht. Ich liebe dich.«
» Okay.« Michelle atmete zitternd aus. » Ich will nur eine einzige Sache wissen. Wie… wie lang hat es gedauert, bis sie, also, Isabel gefunden wurde?«
» Zwei Tage.«
» Bist du sicher?«
Louis blickte Michelle ernst an, die nervös ein Papiertaschentuch in ihren Händen knetete, bis es in Krümeln auf ihren Schoß rieselte. » Zwei Tage. Oder drei? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls eine verdammte Ewigkeit.« Nun packte es Louis doch, die Erinnerung zog in ihn zurück. Seine Schwester war damals auch mitten im Turntraining verschwunden. Zuerst hatte das niemand bemerkt, erst als ihre Kleider in der Umkleide liegen geblieben waren, fiel es auf. Die Polizei hatte ihnen die Turnsachen erst Monate später zurückgegeben, da war seine Schwester schon beerdigt und ihre Familie zerstört. Jetzt musste er doch heulen. Schnell wischte er die Tränen mit dem Handballen weg.
» Drei Tage?!« Michelle schlug sich die Hand vor den Mund. » Oh Gott! Das ertrage ich nicht. Ich will, dass sie jetzt wiederkommt. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Und keine Sekunde später. Wieso hat das denn so lange gedauert? Warum hat sie niemand gefunden?«
Louis holte tief Luft. Das hier war hart. Richtig hart. » Ich erinnere mich
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