Der Atem der Angst (German Edition)
hatte sie noch etwas gekritzelt.
Ich liebe dich, Mama. Ich liebe dich, Papa. Ich liebe dich, Nini. Ich liebe dich, Louis. Passt auf meine kleine Nini auf, damit ihr nie wieder etwas passiert. Ich opfere mein Leben für meine allerliebste Schwester. Ich tue es in Liebe. Ich weiß, dass wir uns alle wiedersehen. Auf der anderen Seite. Dort werde ich auf euch warten und euch in die Arme schließen, wenn ihr zu mir kommt.
Louis sog die Luft durch die Nase ein. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Es war, als ob sein Herz zerbrach. Er fiel auf die Knie, runter auf den aufgeweichten Boden und schrie einen markerschütternden Schrei in die Nachtluft hinaus, wobei er sein Kinn weit nach oben streckte. Wie ein Wolf. Dann trommelte er mit den Fäusten auf die matschige Erde ein, wälzte sich herum und bekam einen morschen Ast zu fassen. Damit ging er direkt auf Maya los, die immer noch am Rand der Lichtung mit der Fackel auf ihn wartete.
In Michelles Kleidern.
Das war zu viel. Er würde dieses Mädchen dafür umbringen, dass es Michelle kaltblütig ausgezogen hatte. Er brüllte, wobei sich seine Stimme überschlug. » Wie konntest du ihr das antun?«
Erschrocken wich Maya zurück. Mit der einen Hand umklammerte sie die lodernde Fackel, mit der anderen tastete sie nach ihrem Messer, das sie sich in Michelles Gürtel gesteckt hatte. Eilig zog sie es hervor und hielt es Louis entgegen. » Zwing mich nicht dazu! Bleib, wo du bist!«
Er dachte gar nicht daran. Besinnungslos vor Wut holte er mit dem Ast aus, um Maya mit voller Wucht damit zu treffen. » Stirb!« Und doch brachte er es nicht fertig. Im Bruchteil von Sekunden sah er ihre erstaunten Augen, die im Licht der Fackel glitzerten. Er sah ihre Angst. Ihre Verletzlichkeit. Und ihre Wildheit.
» Stirb!«, flüsterte er und holte noch einmal mit dem Ast aus, unsicher, ob er nicht doch zuschlagen sollte, um diese übermächtige Wut loszuwerden.
Ihre Stimme klang ganz ruhig, als wollte sie ein wildes Tier besänftigen, das drauf und dran war, sie zu zerfleischen. » Es tut mir leid…«
» Es tut dir leid?« Louis war, als ob das Blut in ihm Funken sprühte. » Du hast einer Toten die Kleider ausgezogen! Sieh sie dir an!« Louis drehte sich halb um und wies auf Michelles leblosen Körper, der am Ast baumelte. » Wie sie da hängt! Vollkommen nackt!« Jetzt weinte er. Ein schmerzerfülltes, tiefes Weinen. » Wie konntest du das tun? Ihr ist kalt!«
Maya holte tief Luft. » Um mein eigenes Leben zu schützen.«
» So kalt ist es nicht, dass du gleich erfroren wärst. Du hast ja bisher auch sehr gut ohne Michelles Klamotten überlebt.«
Maya ließ das Messer ein Stückchen sinken. » Ich musste dringend runter in die Stadt zum Zahnarzt. Und wenn ich mit meiner Fellbekleidung da unten aufgelaufen wäre, hätten sie mich vielleicht erwischt. Da war, entschuldige, dass ich das so sage, Michelle meine letzte Rettung.«
» Du Hexe!« Louis rannte mit geducktem Oberkörper auf Maya zu, die vor Überraschung vollkommen reglos stehen blieb, die Arme weit geöffnet, sodass Louis ihr seinen gesenkten Schädel direkt in die Magengrube rammen konnte. Sie stürzte rücklings zu Boden in den hohen Farn. Die Fackel sauste ins Unterholz. Das Messer hinterher. Maya schnappte hilflos nach Luft. Erstaunt blickte sie Louis an, der auf ihrem Oberkörper saß. Zu seiner Verwunderung wehrte sie sich nicht. Sie versuchte nur zu atmen. Den Kopf nach hinten gereckt, den Mund weit offen. Ihre Arme und Hände schlugen immer wieder hilflos auf die Erde, sie sah aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihre Augen starrten ihn fragend an. Zwei schwarze Murmeln.
Eilig erhob sich Louis. Was hatte er getan? Hatte er sie auf einen herausstehenden Ast geschubst, der jetzt von unten ihre Lunge durchbohrte? Er wollte sie nicht töten. » Geht’s dir nicht gut?«, fragte er mit zittriger Stimme.
Sie antwortete nicht. Keuchte nur herum.
Hinter ihnen knackte es. Als würde sich jemand anschleichen.
Louis fuhr herum. Da war niemand, oder? Eilig kniete er neben Maya, die plötzlich ganz ruhig geworden war. Die Fackel glomm nur noch schwach irgendwo im feuchten Dickicht. Die milchigen Wolken ballten sich vor dem Mond zusammen. Behutsam schob Louis seinen Unterarm unter den Kopf des seltsamen Mädchens, dessen Augen jetzt geschlossen waren, und hob ihn leicht an. Sie röchelte.
Beschämt strich er ihr mit der Hand über die Wange. » Bitte rede mit mir! Das wollte ich nicht.«
39 . HEIDI
Heidi zog leise die
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