Der Atem der Apokalypse (German Edition)
Zweitopfer.«
»Wieso?«
»Bedenken Sie, was er zu ihnen sagt. ›Das ist das Wort eures Gottes. Ihr sollt es verbreiten.‹ Alle uns bekannten Opfer haben ausgesagt, dass er diese Worte benutzt hat. Es ist, als würde er diese Erstopfer als Jünger betrachten, die er aussendet, um in seinem Namen zu töten. Dabei sollte das Wort Gottes ursprünglich Liebe verbreiten. Dieses verbreitet den Tod.«
»Hält er sich für Gott? Hat er einen Überlegenheitskomplex?« Ramsey beugte sich vor.
»Er hat einen Überlegenheitskomplex, definitiv; das zeigt sich schon an seiner Missachtung des Lebens anderer, zumal er sie so klinisch tötet. Aber er gibt sich nicht als Gott aus; er sagt ›Das ist das Wort
eures
Gottes‹, nicht ›Das ist
mein
Wort‹.« Hask lief vor dem Tisch hin und her, während er sich auf den unbekannten Mann konzentrierte. »Selbstverständlich könnte er sich trotzdem für Gott halten und wählt nur eine zweideutige Ausdrucksweise. Oder er lässt einfach einen Kommentar über das ureigene Wesen Gottes und seine Beziehung zur Menschheit vom Stapel. Vielleicht hat er das Gefühl, dass dieser Tod – und vergessen wir nicht die damit verbundene Angst, darauf werde ich noch zurückkommen – genau das ist, was Gott für uns vorgesehen hat.«
»Heißt das, er ist religiös?«
»Ah, nicht so voreilig! Die Anspielungen auf die Religion sind zwar nicht zu übersehen – er fing mit den Kranken und Verwundbaren an und gab ihnen, was sie zu wünschen glaubten, insofern hat er sich schon als eine Ausgabe von Jesus stilisiert. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es irgendwie ironisch gemeint sein könnte. Falls er je religiös
war
, ist das sicher lange her. Diese Taten sind auch nicht aus einem Zorn auf Gott geboren. Falls er wütend gewesen sein sollte, würde das einen gewissen Glauben voraussetzen, aber ich glaube eher, dass er das Ganze amüsant findet.«
»Er findet es
amüsant
, den Virus in der Bevölkerung zu verbreiten? Mein Gott!« Ramsey hob den Blick. »Sollte kein Witz sein.«
»Erinnern Sie sich an den Fliegenmann? Der ›Nichts ist heilig‹ auf seine Opfer geschrieben hat?«
»Wie könnte man den vergessen?«
»Das war seine Botschaft und er wollte, dass jemand herausfand, was er damit meinte. Er hatte etwas zu sagen. Dieser Mörder ist anders. Ich bekomme immer mehr das Gefühl, als wäre das alles ein Witz, den nur er versteht. In seinem Kopf parodiert er einen Serienkiller, um seinen Spaß zu haben.« Hask machte eine Pause. »Damit bleibt er natürlich ein Serienmörder. Aber eben einer, dessen Motivation alles andere als gewöhnlich ist. Ich bezweifle, dass er sich selbst als Serienmörder sieht – das wäre unter seinem Niveau.«
»Anfangs infizierte er also Junkies und Obdachlose«, sagte Heddings. »Und warum ist er dazu übergegangen, sich Leute wie Michaela Wheeler herauszupicken?«
»Eins dürfen wir nicht vergessen. Ich denke, er hat den Virus selbst.«
»Und deshalb ist er wütend auf diese Leute? Er macht sie oder ihresgleichen dafür verantwortlich, dass er sich angesteckt hat?«
»Der Täter mordet nicht aus vordergründiger Wut; in seinen Taten ist keine Bosheit zu erkennen. Er tut den Menschen nicht weh und steckt sie dann an. Offensichtlich ist er im tiefsten Inneren verbittert, ohne es offenbar selbst zu wissen. Ich glaube kaum, dass er lange über seine negativen Gefühle nachdenkt. Dieser Mann strotzt vor Arroganz, er ist es gewöhnt, alles im Griff zu haben. Wegen des Virus ist jetzt alles aus dem Ruder gelaufen. Und indem er die Krankheit verbreitet, holt er sich einen Teil der Kontrolle zurück – wenn schon nicht über sein eigenes Leben, dann wenigstens über das anderer Menschen.«
»Wir müssen alle überprüfen, bei denen in den letzten sechs Monaten Strain II neu diagnostiziert wurde.« Ramsey sah den Sergeant an. »Da draußen ist irgendwo ein Arzt oder ein Krankenhaus, das seine Symptome behandelt. Und wenn er zur Mittelschicht gehört, wie wir aus seiner äußeren Erscheinung schließen, kommen nicht so viele infrage. Ich weiß, die Zahlen sind im letzten Monat in die Höhe geschossen, aber wenn er die Krankheit weiterverbreitet hat, dann muss er selbst lange davor die Diagnose erhalten haben.«
»Stimmt genau«, sagte Hask. »Und noch mal dazu, warum er sich jetzt eine neue Gesellschaftsschicht vorgenommen hat: Ich glaube, er möchte auffallen. Das wollen alle Serienmörder, und auch wenn er sich gar nicht als solcher begreift, wissen
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