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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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damit alle heiligen Orte der Erde hätten gesegnet werden können. Und es war längst offenkundig, dass Gott nicht antwortete. Jedenfalls nicht so, dass ein normaler Kerl ihn verstehen konnte. Man konnte »rette mich, rette mich!« rufen, so viel man wollte, aber es würde trotzdem nichts an dem ändern, was geschehen würde. Und doch taten wir es. Riefen rette mich rette mich, jeder auf seine Weise, mit Worten oder ohne, den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag, und hielten Ausschau nach einer Küste, nach goldenen Gefilden, bis ich merkte, wie mein Verstand wieder durcheinandergeriet, und Dan holte seine Pistole heraus und legte sie in die Mitte unseres Kreises.
    »Mir ist es egal«, sagte er. »Ihr könnt mich erschießen, wenn ihr wollt.«
    Unterdessen verschlossen sich unsere Münder nach und nach wieder. Seit unserem letzten Schluck Wasser waren Stunden vergangen. Ekliger Schaum bildete sich, die Lippen schmatzten und klebten zusammen, man musste sie mit großer Anstrengung auseinanderziehen, um die Wörter herauszusabbern. Wir waren abscheulich anzusehen. Ein leichter Regen begann zu fallen, silbern und grau und sehr schön. Herrlich kühl auf meiner Stirn.
    »Es gibt Regeln«, sagte Tim ernst.
    » Regeln !« Dan warf den Kopf in den Nacken und lachte, als wäre er betrunken wie in alten Zeiten.
    »Er hat Hufe«, sagte Skip.
    Dan lachte noch heftiger. Man hätte glauben können, er säße im Olymp des Empire-Theaters.
    »Aber du hast eine Familie und all das«, sagte Tim, und da hörte er auf zu lachen und löste sich ganz plötzlich in Tränen auf, wie ein ins Wanken geratener großer Fels. Er ließ den Kopf hängen und weinte leise, den Mund zu einem Affengrinsen verzogen.
    »Gerechte Aufteilung«, sagte Tim.
    Dan wischte sich die Nase am Ärmel ab, beugte sich noch tiefer, bis sein zottiger Kopf auf seinen Knien lag, schlang die Arme um sich und zitterte heftig. Das war es dann erst einmal wieder für eine ganze Weile, als hätten wir nur noch die Wahl zwischen kurzen Ausbrüchen und langen Leerphasen. Das furchtbare Brennen holte mich da heraus. Es quälte mich schon lange, aber aus irgendeinem Grund hatte es sich in der vergangenen Stunde bis zum Wahnsinnigwerden gesteigert, vor allem in den Rissen in meinen Ellbogen, wo es derart wütete und tobte, dass ich am liebsten Klauen gehabt hätte, um daran zu reißen.
    »Trinken«, flüsterte ich.
    Der Regen hatte aufgehört. Bald würde meine Zunge sich wieder selbstständig machen. Sich aufblähen wie ein Ballon und nach Luft verlangen.
    »Ja, trinken.« Tim berührte Dans Arm. »Geht nicht anders.«
    Dan hob den Kopf und blickte uns mit so etwas wie Humor an. »Natürlich«, flüsterte er.
    »Gerechte Aufteilung«, sagte Tim und langte nach dem alten Blechbecher.
    Es würden Dinge geschehen. Ich würde hier liegen und zusehen. Wenn ich nur einmal die Augen schlösse, könnte ich jahrelang schlafen, so wie jener Rip van Winkle aus der alten Geschichte, und an irgendeinem anderen Ort wieder auftauchen. Als das Wasser zu mir kam, empfing ich es wie ein Sakrament. Ich hielt die Augen weit offen. In was für einer schönen, hellen, klingenden Welt wir waren. Sie sang und summte um uns herum, trug uns hüpfend hierhin und dahin, wirbelte uns auf Samtpfoten herum; was für ein sonderbar veilchenblauer Himmel. Da ist Blut aus dem Mund von jemandem im Wasser. Dan weinte noch immer, und das steckte an. Es war das kühle Wasser auf meiner Zunge, das mich umwarf, so herrlich war es. Als Nächstes weinten wir alle, aber nicht auf schlimme Weise. Es war ein gutes Weinen, erfrischend und reinigend. Nachdem wir getrunken hatten, legten wir eine zitternde Hand in die andere und bildeten wieder einen Kreis.
    »Wir müssen alle einverstanden sein«, sagte Dan.
    Wir vier. Wir blicken um uns, in die Augen der anderen, die erstaunt sind und tanzen. Skips Augen bluten, oder seine Tränen sind mit Blut verseucht, entweder das eine oder das andere.
    Es ist wie in den Liedern, den alten Geschichten.
    »Acht Zettel«, sagt Tim. »Auf zwei kommt ein Zeichen.«
    »Zwei?«
    »Muss sein«, sagt er, »das zweite für den, der schießt. So wird es gemacht.«
    »Gott im Himmel!«, flüstere ich.
    »Wir müssen alle einverstanden sein«, wiederholt Dan.
    »Einer geht«, sagt Tim, »oder wir sterben alle.«
    Skip verschmiert seine blutigen Tränen. Er lächelt, als er den Rest seines Zeichenhefts aus der Hosentasche holt. »Nehmt das hier«, sagt er. Es ist die letzte Seite, Horta, vom Land

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