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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Mädchen, das mich aus der Menge heraus angelächelt hatte, war auch da, stand am Herd und drehte sich, einen tropfenden Löffel in der Hand, zu mir um. Sie lächelte wieder.
    Es war nicht Liebe auf den ersten, sondern Liebe auf den zweiten Blick. Ihr Haar war glatt und hell, ihr Gesicht strahlend und unschuldig, ihre Schürze schmutzig. Sie hatte Grübchen.
    »Ishbel«, befahl ihre Mutter, »stell ihm Hafergrütze hin. Dein Bruder ist so ein schrecklicher, schlimmer Junge.« Und während sie mit dünner, zittriger Stimme sprach, schrubbte sie mir Gesicht und Hände mit einem heißen Lappen ab. »Man sieht doch gleich, wieso der Alte den hier ins Herz geschlossen hat«, sagte sie und spülte den Lappen aus, »genau wie der arme Anton. Du meine Güte!«
    Ich sah die abgekauten Nägel und blutenden Finger des blondhaarigen Mädchens, als sie mir auf dem Tisch ein Plätzchen frei räumte. Sie schob mir eine Schale mit Hafergrütze vor die Nase. Ihr Rock war dunkelrot. Ich dankte ihr, und sie verneigte sich mit spöttischer Höflichkeit. »Bitte schön«, sagte sie, wirbelte herum und setzte sich dem Mann vor die Füße. Er sah ein bisschen wie Tim und das Mädchen aus, wenn man die beiden kahlgeschoren, wie Ballons aufgeblasen und ihnen den Verstand genommen hätte.
    »Mach es dir nur nicht zu bequem, junge Dame«, sagte ihre Mutter. Aber Ishbel lehnte sich gegen seine Beine, schlang die Arme um ihre Knie, hielt den Kopf schräg und sah mich mit unverhohlener Neugier an.
    Später erschien Tim in der Türöffnung. Seine Mutter stürzte sich auf ihn und schrie: »Er wird dich rausschmeißen! Du elender Junge! Du! Du! Er wird dich rausschmeißen, das steht fest! Du ruinierst alles!«
    Er zwinkerte heftig, kam an den Tisch, wo ich mir Hafergrütze in den Mund schaufelte, und streckte die Hand aus.
    »Es tut mir sehr leid, Jaffy«, sagte er und blickte mir fest in die Augen. »Wirklich. Echt. Das war richtig gemein. Du kannst weiter bei Spoony arbeiten. Ich war bei denen und hab ihnen alles erzählt.«
    Ich stand auf, und wir schüttelten einander feierlich die Hände.
    »In Ordnung«, sagte ich.
     
    Mittagszeit. Mama schlief, als ich nach Hause kam. Mari-Lou und Silky schliefen ebenfalls, seufzten im Traum lang und tief hinter dem Vorhang. Ich legte mich neben Mama ins Bett, mein Fernrohr an mich gedrückt. Dan Rymers Fernrohr, das einmal um die ganze Welt gereist war. Sie wachte nicht auf, nahm mich aber in ihre Armbeuge, und ein hohes Schiff trug mich durch gemalte Wellen fort in einen langen, süßen Schlaf.
    3
    Mr Jamrach mochte Kinder. Tim und Ishbel waren schon sehr früh bei ihm ein und aus gegangen, um die Tiere zu sehen. Sie waren Zwillinge und brachten ihn zum Lachen, und er gab ihnen Pennys für kleinere Erledigungen. Als Tim dann richtig bei ihm zu arbeiten begann, sorgte er dafür, dass er zwei Tage in der Woche zur Schule ging, und jetzt tat er dasselbe bei mir. Mit elf Jahren konnte ich also lesen und schreiben. Mr Jamrach sagte, er lege Wert darauf, dass seine Jungs Dinge notieren und Listen lesen konnten. Ich war schnell. Mama war beeindruckt. »Jaff, du schlauer Bursche«, sagte sie, wenn ich ihr die Plakate vorlas, die draußen am Seamen's Bethel, der Kapelle für Matrosen, angeschlagen waren. Großer Jahrmarkt, Themse-Tunnel , las ich stolzgeschwellt, Madame Zan-Zan, Wahrsagerin. Crinellis Marionetten. Die wunderbaren Marioletti-Brüder. Schlangenbeschwörung, Feuerläufe, Schiffschaukeln. Eintritt 1 Penny.
    Am Jahrmarktstag ließ er alle früh Schluss machen und drückte Tim und mir ein oder zwei Münzen in die Hand, als wir draußen vorm Schuppen unsere Arbeitsstiefel auszogen. Wir wuschen uns an der Pumpe, zogen frische Sachen an, und auf dem Weg durch die Gasse schubsten wir einander, schüttelten uns das Wasser aus den Haaren und pulten die Ohren sauber. Ishbel hatte am Nachmittag in der Malt Shovel gearbeitet und etwas Gin getrunken. Vielleicht war sie deshalb so schroff. Jedenfalls fing sie sofort an zu schreien, als Tim die Wohnung betrat, was allerdings auch nicht ungewöhnlich war.
    »Du solltest doch vorm Weggehen Kohlen holen!« Sie rührte gerade Suppe, und ihr Gesicht war ganz in Dampf gehüllt. »Du faule Sau!«
    »Halt die Schnauze, Frau«, konterte Tim von oben herab. »Was fällt dir ein, mich faule Sau zu nennen? Ich hab seit fünf Uhr früh Scheiße geschaufelt.«
    Mrs Linver machte einen etwas aufgelösten Eindruck. Ihre Augen traten vor, und die Haare klebten ihr klatschnass in der

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