Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
Gesicht lief rot an. »Stimmt nicht.«
    »Doch.«
    Er fing an zu weinen.
    »Tim«, sagte Jamrach streng.
    »Bitte feuern Sie mich nicht, Mr Jamrach«, sagte Tim jämmerlich, »ich hab es doch nicht böse gemeint.«
    »Heißt das etwa, dass du diesen Jungen über Nacht im Geschäft eingeschlossen hast?«, fragte Jamrach.
    »Das war doch ein Scherz«, sagte Tim.
    Und da erlebte ich zum ersten und einzigen Mal, dass Jamrach die Beherrschung verlor.
    Seine dünnen Lippen wurden hart und bebten. Er brüllte. Er schrie, dass Tim ein böser Junge sei, ein widerwärtiger, gemeiner Junge, der noch am Galgen enden würde, und das geschähe ihm recht! Er könne jetzt abziehen! Und brauche nie mehr wiederzukommen! »Du musst immer das Sagen haben, was, Tim?«, polterte er. »Ich bin fertig mit dir!« Und er hob mich auf seine Knie.
    Und jetzt tat Tim mir leid. Er bettelte. Er schluchzte. Er war nur noch ein Häufchen Elend. Er sagte, es tue ihm leid, er habe es nicht so gemeint, er würde so etwas Schreckliches nie wieder tun, nie, niemals.
    »Verschwinde, Tim.« Jamrach berührte die große Beule auf meiner Stirn. »Wo kommt die denn her?«
    »Ich bin im Dunkeln gefallen«, sagte ich.
    Tim stand an der Tür, ließ die Arme hilflos hängen, und die
Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Ich schenke dir auch mein Fernrohr«, sagte er halb schluchzend.
    »Werfen Sie ihn nicht raus, Mr Jamrach«, sagte ich.
    Jamrach stieß einen gewaltigen Seufzer aus.
    »Wieso nicht?«, fragte er. »Wieso sollte ich ihn nach alledem behalten?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    Das leise Schniefen vom heulenden Tim war einen Moment lang das einzige Geräusch. Jamrachs Augen blickten traurig.
    Bulter steckte den Kopf durch die Tür. »Der Mann von Mr Fledge ist da«, sagte er.
    Sie kamen von überall her. Russland, Wien, Paris. Schlaue Männer. Jamrach fluchte auf Deutsch. »Was will er denn diesmal?«, fragte er. »Ein Einhorn? Ein adlerköpfiges Pferd?«
    Bulter kicherte.
    »Wo ist er?«
    »Im Hof. Guckt sich die Elefanten an.«
    »Sag ihm, er soll warten«, erklärte Jamrach und seufzte erneut.
    Als Bulter gegangen war, setzte Jamrach mich ab und stand auf. Er bürstete sich die Knie. »Tim«, sagte er, »putz dir die Nase und hör auf zu jammern. Zieh dich anständig an, und dann gehst du auf direktestem Weg zum Spoony Sailor und erzählst ihnen ganz genau, was du gemacht hast. Sag ihnen, dass Master Jaffy keinerlei Schuld trifft und dass er heute Abend wieder pünktlich zur Stelle ist. Sag ihnen, dass ich dich geschickt habe und dass ich mich für Jaffy verbürge. Und dann kehrst du schnellstens zurück und machst dich wieder an die Arbeit.«
    Tim rannte los.
    Jamrach nahm mich bei der Hand und führte mich nach draußen und über den Hof. »Einen Moment noch!«, rief er einem hochgewachsenen, dünnen Mann zu, der bei den Elefanten stand. Es gab eine Tür an der Seite, die er aufschloss und durch
die wir auf eine schmale Gasse mit hohen Backsteinmauern gelangten, wo Unkraut zwischen dem Kopfstein wuchs. Ich war noch nie so Hand in Hand mit einem Mann gegangen, wie ich andere Kinder mit ihren Vätern hatte gehen sehen. Wo die Gasse eine Kurve machte, stand ein kleines Haus mit einer offenen braunen Tür, deren Farbe abblätterte. Er klopfte.
    »Mrs Linver!«, rief er. »Ein Patient für Sie!«
    Es erschien die Frau, die mit wütendem Gesicht vorn in der Menschenmenge gestanden hatte, als Jamrach mich vor dem Tiger rettete. Sie wischte sich die beschlagenen Brillengläser mit der Schürze ab. Ihre vorstehenden Augen irrten mit dem Ausdruck übertriebenen Erstaunens an mir entlang, ohne etwas zu erkennen. Dann setzte sie ihre Brille wieder auf und sah jetzt deutlich. »Der kleine Tiger-Junge!«, rief sie aus, sank vor mir aufs Knie und fasste mich an den Schultern. Mr Jamrach erklärte ihr, was geschehen war, und sagte, sie solle mir etwas Gutes zu essen machen und mich dann zum Schlafen nach Hause schicken.
    »Ich werde dem Jungen das Fell über die Ohren ziehen!«, rief sie, als sie von Tims Schandtat hörte.
    Mr Jamrach entfernte sich eilig durch das verlassene Gässchen, und sie nahm mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer, in dem überall trocknende Wäsche ausgebreitet war, auf Stuhlrücken, einem Tisch, einem massiven Gestell, das über einem lodernden Feuer von der Decke hing. Ein rundlicher, blasser, glatzköpfiger Mann schnitzte in einem durchgesessenen Lehnstuhl vorm Kamin, vage lächelnd, an einem Holzstock, und das kleine

Weitere Kostenlose Bücher