Der Atem der Welt
Nixenlied, die sich mit einem imaginären Kamm durchs Haar fuhr und sich in einem imaginären Spiegel bewunderte. Und dann sang sie die Zeilen:
Es drehte sich dreimal das noble Schiff
Es drehte sich dreimal auch sie . . .
und dabei drehte sie sich dreimal tanzend im Kreis und sank am Schluss mitten in einem Berg aus Röcken anmutig auf den Gehsteig und wedelte mit den Armen wie Seegras . . .
und sie sank auf den Grund der See,
der See, der See
und sie sank auf den Grund der See.
Ihre Geburtstage fielen auf den ersten August, seiner und ihrer.
Zu ihrem zehnten schenkte ich ihr eine Muschel. Sie würdigte sie keines Blicks.
Zu ihrem elften schenkte ich ihr ein Daumenbilderbuch zum Schnellblättern. Sie lachte ein- oder zweimal und spielte damit bei prasselndem Regen unter dem Segeltuch der Drago .
Zu ihrem zwölften schenkte ich ihr nichts und schwor mir, ihr nie mehr etwas zu schenken.
Zu ihrem dreizehnten schenkte ich ihr eine Orange.
Zu ihrem vierzehnten schenkte ich ihr eine wild gefleckte Maus. Sie nannte sie Jester, und Jester rannte in ihrer Schürze herum.
Zu ihrem fünfzehnten schenkte ich ihr einen goldenen Ring, den ich einem betrunkenen Matrosen im Spoony gestohlen hatte.
Jester starb.
Zu ihrem sechzehnten schenkte ich ihr eine ganz besondere, sehr schöne Ratte. Sie liebte die Ratte. Es war ein Männchen, und sie nannte ihn Fauntleroy. Wenn sie über die Straße ging, linste Fauntleroy aus ihrer Haube. Das Rattenmännchen war schneeweiß, hatte leuchtend rosafarbene Augen und mochte Musik.
Sie hatte Fauntleroy dabei, als sie sich von mir verabschiedete.
Es steht Lord Lovell in seinem Stall
Und bürstet sein milchweißes Ross
Da kommt des Wegs Lady Nancy Belle
Und wünscht dem Lord gute Fahrt.
Ich segle davon, oh, Liebste mein,
Um fremde Orte zu sehen . . .
Mir fällt beim besten Willen die nächste Zeile nicht ein.
Ich habe fremde Orte gesehen, und sie haben mich gesehen. Sie haben mir mit ruhigem, wohlwollendem Blick zugesehen . . .
Zwei Tage vor unserem Aufbruch stand ich im schweigsamen Vogelraum, einem Ort, zu dem es mich immer wieder hinzog, und fühlte mich beobachtet.
»Wollte dir nur auf Wiedersehen sagen, Jaff«, erklärte sie.
»Kommst du denn nicht, um uns nachzuwinken?«
»Doch natürlich«, sagte sie, »aber dann sind doch alle da.«
Ich fiel auf die Knie, küsste ihre kräftigen Stummelhände und die abgekauten Nägel, weinte und sagte, dass ich sie liebe.
Nein, das tat ich nicht.
Ich sagte: »Oh«, und das war alles.
»Ich hab nur eine Minute Zeit«, sagte sie.
»Arbeit?«
»Mama braucht mich.«
»Oh.«
»Es wird komisch sein, wenn ihr Jungs weg seid.«
Ich lachte. »Würdest du auch gern mitfahren?«, fragte ich.
Sie verzog das Gesicht. »Walfangboote stinken.«
Wir waren verlegen. Es könnte das letzte Mal sein, dachte ich. Ich breitete die Arme aus und drückte sie fest an mich. »Ich hasse euch beide, weil ihr fortgeht«, sagte sie, plötzlich den Tränen nahe. Als ich sie auf den Mund küsste, küsste sie mich zurück. Es waren lange süße Minuten, ehe sie sich entzog und sagte, sie müsse jetzt gehen, und meine Hand nahm und mich nach draußen zog. Mir drehte sich alles. Ich brachte sie ans hintere Tor. Cobbe schaufelte gerade Mist im Hof. Die Löwin kaute friedlich an einem Stück Fleisch, hielt es in ihren Pranken, leckte verliebt daran, fraß mit geschlossenen Augen.
»Du passt doch auf ihn auf«, sagte Ishbel. »Du weißt, dass er nicht so mutig ist, wie er tut.«
»Ich auch nicht.«
»Papa will ihm nicht die Hand geben«, sagte sie. »Er hat geweint. Du darfst ihm nicht sagen, dass ich es dir verraten hab.«
»Natürlich nicht.«
Wir standen da und lächelten etwas idiotisch.
»Im Grunde ist er ein großes Baby«, sagte sie.
»Ich auch«, sagte ich.
»Wie geht es deiner Mama?«, fragte sie.
Als wäre nichts geschehen.
»Sie wird zurechtkommen. Sie hat Charley gebeten, mir gut zuzureden, dass ich hier bleibe und ins Fischgeschäft einsteige. ›Meinst du das ernst?‹, habe ich gefragt. ›An einem Fischstand arbeiten, anstatt die Welt zu umsegeln?‹«
Sie lachte. »Na gut«, sagte sie und strich sich das Haar glatt, »ich zieh mal lieber los«, und weg war sie.
Drei Jahre und als Mann zurückkehren, verändert zurückkehren. Fremde Orte sehen, nach denen ich mich verzehre. Das Meer sehen. Ob man sich wohl jemals daran über sehen kann, am Meer? Das hatte sie mich einmal gefragt, als wir
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