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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Aufgabe nach der anderen erledigen. Und dazu machte ich ein Gesicht, von dem ich hoffte, es verriete aufgeweckte Intelligenz. Ich sah, wie der Kai sich entfernte und die Silhouetten verschwammen, hörte plötzlich das süße, dumpfe Läuten einer Londoner Uhr, die mir ein langes Lebewohl hinterherschickte.
    Mitten in meiner Verwirrung tauchte ganz plötzlich ein Junge mit einem runden dunklen Kopf vor mir auf. Er hatte ein schiefes Gesicht, eine stoische Miene und einen verlegenen Mund. Er sah so aus, wie ich mich fühlte, wippte mit den Füßen, ohne jede Ahnung, was er machen sollte. Eine kurze Sekunde lang blickten wir einander in dumpfem gegenseitigen Verständnis in die Augen. Dann lächelte er, immer noch mit steifem, geschlossenem Mund, ein angesichts der Situation eigentümlich bedächtiges Lächeln.
    Mit polternden Stiefeln und pferdeartigem Schnauben stürz
te Mr Rainey von oben zwischen uns wie ein von Gott geschleuderter Blitz. »Was glaubt ihr wohl, was das hier ist? Ein Vergnügungsdampfer?«, fuhr er uns an und schlug dem Jungen so heftig auf den Kopf, dass er stürzte.
    »Schwachköpfe«, brüllte er und stampfte krummbeinig und bösartig über Deck davon. Weiß der Himmel, warum er nicht auch mich schlug. Zu begierig wahrscheinlich, sich sein nächstes Opfer vorzunehmen, einen armen Jungen oben in der Takelage. »Du verdammter Idiot!«, schrie er und sah hoch, »verdammt, verdammt, verdammt, ihr alle miteinander, verdammtes Pack! Los, runter mit dir!«
    Ich verdrückte mich rasch, suchte Tim, sah ihn aber nicht. Ich stand nutzlos herum. Jemand klopfte mir auf den Hinterkopf und sagte, ich solle mich beeilen.
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll!«, erklärte ich vorwurfsvoll, plötzlich richtig empört. Wie konnte irgendjemand erwarten, dass ich wusste, was zu tun war?
    Der Mann war ein schlaksiger, magerer Kerl mit einer langen, empfindsamen Nase wie ein Nasenbär und mit geschwungenen Augenbrauen, die ihm ein clowneskes Aussehen verliehen. »Hierhin«, sagte er und zog mich zur Winsch. Oh Gott, die verfluchte Winsch. Ein großes horizontales Rad an Deck, oben über unserem Logis – ach, wäre ich doch jetzt da unten bei meiner Seemannskiste! Ich musste es zusammen mit einem großen, kräftigen blonden Jungen anschieben, der wie ein Ochse gebaut war. Sogar er stöhnte, während er sich abrackerte, und fluchte in seiner eigenen Sprache. Ich verausgabte mich völlig. Der lange, dürre Kerl kam uns zur Hilfe, sein glattes braunes Haar, dünn wie alles an ihm, hing ihm in die Augen. Kaum Fleisch auf den Rippen, aber er war stark. » Hopp , jetzt«, sagte er. » Schieben !«
    Schieben. Schieben. Über sämtliche eigenen Kräfte hinaus: schieben. Nur undeutlich nahm ich das Gerenne der anderen wahr, hörte Pfiffe, Gelächter, das heftige Knarren und Ächzen
des Schiffs, wenn wir es unsanft behandelten, und spürte eine neue Schwerelosigkeit, hatte das Gefühl zu fallen, obwohl meine Füße fest auf den Planken standen.
    Die portugiesischen Matrosen auf Landgang klatschten und feuerten uns an. Jetzt war keine Zeit mehr, zum entschwindenden Kai zurückzublicken, wo Ishbel uns zusammen mit den verschlafenen Kahnführern und trauernden Müttern und Dan Rymers Ehefrau hinterherschaute.
    Wir nahmen die nasse Straße aus der Stadt hinaus. Die Kaianlagen und Wirtshäuser glitten vorbei, die Sonne wurde heller und warf ein goldenes Licht auf Lagerhäuser und Wellenkämme. Segel flatterten im Wind. Der Kapitän, ein stämmiger, breitbrüstiger Mann mit dünnen rötlichen Brauen in seinem blassen, eckigen, sommersprossigen Gesicht kam mit einem struppigen braunen Hund im Schlepptau zu uns herüber, lächelte knapp, ohne jemanden Bestimmtes zu meinen, und sprach ausschließlich mit seinem ersten Offizier. Ich war froh, dass es einen Hund an Bord gab. Das hatte ich nicht erwartet. Tim und ich hielten uns an Dan. Wir hätten eine Menge zu lernen, sagte er und fing gleich an, uns die Namen der Dinge beizubringen. Alles, was wir bis dahin gekannt hatten, blieb hinter uns zurück, als hätten wir es losgelassen. Das Land wurde grün und stieg zu beiden Seiten an, und die Marschen verschluckten uns. Die klagenden Schreie langbeiniger Vögel flogen über das Schilf. Seemöwen mit finsteren Augen glitten kraftvoll auf der Luftströmung neben uns her und leisteten uns auf der ganzen Strecke bis zum südöstlichen Zipfel von Kent Gesellschaft, wo Mr Rainey mich zum Masttopp hochschickte.
    Ich bin ein guter Kletterer und

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