Der Atem der Welt
habe keine Höhenangst. Außerdem war es die allergünstigste Zeit, um hinaufzusteigen, mit der steigenden Flut vor uns und den Bramsegeln im Wind. Zum ersten Mal sah ich das Meer. Viel zu groß zuerst, natürlich. Ein Glänzen, das einfach jenseits aller Vorstellung war, auch
wenn man sich alles Mögliche vorgestellt hatte. Da ritt ich nun hoch oben, unter vollen Segeln der Lysander , ein lebendiges Wesen. Ihr Bugspriet hob und senkte sich wie ein Pferdehals in vollem Galopp. Die Gischt schäumte, und die Fangboote zitterten in ihren Halterungen. Ich blickte hinunter und sah Dan Rymer, der sich auf dem Achterdeck gemütlich mit dem Kapitän unterhielt. Der dürre Sam, das Gesicht ein einziges Faltengewirr, tänzelte mit der Geschmeidigkeit einer Küstenkatze auf einer Spiere entlang und lächelte dabei. Der struppige Hund des Kapitäns trottete über die Planken und hob das Bein am Hauptmast, und ich hatte alles Gefühl für die Zeit und die Zukunft oder sonst irgendetwas verloren und war vollkommen und geradezu entsetzlich glücklich. Ich wusste, dass ich das Richtige getan hatte.
Später, kurz bevor der Kapitän seine Rede hielt, hatten auch Tim und ich eine friedliche gemeinsame Minute, während wir an der Reling standen und aufs Meer hinausschauten. Er legte mir seinen Arm um die Schultern. »Das ist das Leben, Jaff«, sagte er. Er hatte sich schon den ganzen Tag wie ein von der Leine gelassener Hund benommen. Nicht um die Tiere war es ihm also gegangen, sondern darum, draußen und unterwegs zu sein. Er zitterte leicht, ob aus Kälte oder weil er nervös war, weiß ich nicht. Es ist doch ein seltsames Gefühl, wenn man zum ersten Mal ins Unbekannte aufbricht. Man wünscht es sich, und gleichzeitig hat man Angst. Tim hätte seine Angst nie zugegeben. Niemals. Aber er hatte Angst, jeder Idiot konnte das sehen.
»Das ist das Leben«, sagte ich.
Und das war unsere ganze Unterhaltung, dann rief uns der Kapitän auf dem Achterdeck zusammen, um die Wachen und die Mannschaften für die Fangboote einzuteilen.
Wir hatten drei Fangboote, ohne die Reserveboote mitzuzählen. Ich wollte nicht zu Rainey. Es gab eins mit Kapitän Proctor, eins mit Rainey und eins mit Comeragh – dem zweiten Offizier,
der, wie sich herausstellte, der lange Dünne mit der großen Nase war, der mir auf den Hinterkopf geklopft und gesagt hatte, ich solle mich beeilen. Rainey und er waren gut fünfzehn Zentimeter größer als Kapitän Proctor, der stämmig und kräftig war, aber nicht groß. Würdevoll standen sie da, wie zwei hohe dunkle Vasen, die einen bleichen runden Topf flankierten – Rainey, breitbeinig, die Hände mit ein paar Zetteln hinterm Rücken versteckt, und Comeragh, der die ganze Zeit zu lächeln schien. Doch das lag an seinem Gesicht, das einfach so war.
»Ich gratuliere Ihnen, meine Herren, zu Ihrem großartigen Auftritt«, sagte der Kapitän mit ausdruckslosem Gesicht und ließ den Blick über unsere Versammlung gleiten. Wir, die wir keine Ahnung hatten, orientierten uns an den Erfahreneren, die lachten, denn sie schienen instinktiv zu ahnen, dass es sich um gutmütigen Spott und nicht um reinen Sarkasmus handelte. Jetzt deutete sich ein Lächeln in seinem Gesicht an. »Wir werden miteinander zurechtkommen«, sagte er, ohne dass seine Augen irgendwo verweilten, »wenn wir eines nicht vergessen.« Lange Pause, wandernde Augen. »Ein Schiff ist ein gefährlicher Ort, ganz besonders ein Walfänger.« Lange Pause. »Ihr werdet den Befehlen von mir und allen Offizieren immer und sofort Folge leisten. Es wird keine Ausnahmen geben. So einfach ist das.«
Er hatte eine wohlklingende, akzentuierte Stimme, sehr viel kraftvoller und markanter als sein Gesicht, das für einen Kapitän allzu jungenhaft war. Der Hund, der mit einfältiger Miene an seinem Bein lümmelte, trug nicht gerade dazu bei, diesen Eindruck zu mindern. Begeistert sprach der Kapitän dann zehn Minuten lang über Pflicht und Gehorsam und Sich-Zusammenreißen. Diejenigen, die noch nicht gesegelt seien, würden Betreuer erhalten, denen wir zu gehorchen hätten. »Eure Aufgabe ist es jetzt«, erklärte er, »alles, was ihr nur lernen könnt, so schnell wie möglich zu lernen.« Es herrschten Gesetze an Bord, so streng wie überall sonst auch, sagte er, mit klaren Regeln und klaren
Strafen, wenn man sie brach. Es sei sehr einfach. Diese Regeln seien jederzeit einzusehen, da sie in Abschriften sowohl im Zwischendeck als auch im Logis aushingen. Und wer nicht lesen
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