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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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auf der London Bridge standen. Dabei hatte sie es noch nie gesehen, und ich bete, dass sie es auch nie wird.
    Ich ging nach Hause und sah durchs Fenster in den Sonnenuntergang. Es war Mai. Der Himmel war ein rotes Auge, die Dächer waren schwarz. Inseln schwammen am Himmel. Die Wellen hüpften. Es waren die Azoren, jene wunderschönen Inseln. Jaffy Brown ist fort. Er änderte die Richtung, wurde verändert, ein Gespenst auf einem von Göttern heimgesuchten Ozean. Meine Augen und der indigofarbene Horizont werden eins.
     
    Lysander ist ein Schiff, ihr Jungs,
    Nach China geht die Fahrt.
    Der Hafen ist so bunt geschmückt
    Mit Mädchen hübsch und zart.
     
    Nun, in unserem Fall war der Hafen nicht mit hübschen Mädchen geschmückt. Es war früher Morgen, und es gab nur ein Grüppchen Hafenarbeiter und Kahnführer am Kai, ein Häufchen alter Weiber und wenige Mütter, meine nicht. Mama war zuletzt recht kühl zu mir gewesen. Wir hatten uns schon vorher verabschiedet. Sie hasse all das, sagte sie. Wenn du gehen musst, dann geh halt und komm so schnell wie möglich zurück, und glaub ja nicht, mir gefällt das. Dan Rymers Frau war da, eine hoch aufgeschossene blonde Frau mit kleinen Kindern am Rockzipfel und einem Baby im Arm. Und Ishbel.
    Eine Schiffsladung portugiesischer Matrosen, auf Landgang zu einer Zechtour, entdeckte Ishbel, denn sie kam direkt vom Paddy's Goose und trug noch ihre roten Schuhe.
    Sie weinte nicht und machte auch sonst kein Gewese. Wir bekamen beide einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Sie umarmte Tim sehr lang und mich ein wenig kürzer.
    »Du bringst ihn heil zurück, Jaff«, sagte sie.
    Ich sehe sie noch immer dort stehen und winken, eine Hand über den Augen gegen die Sonne.
    5
    Als ich endlich meinen Fuß an Bord setzte, war das Entsetzen, das in meinen Eingeweiden wühlte, unauflöslich mit einer Art Vorfreude vermischt. Ich wollte unbedingt einem Wal ins Auge blicken. Der einzige Wal, den ich jemals gesehen hatte, war der Wal auf dem Gemälde in der Seemannskapelle, der Jonas verschluckt hatte. Er hatte kein Gesicht. Er war nur ein großer Klotz, ein Ungetüm mit einem Maul. Aber ein Wal hatte doch Augen, das wusste ich, und in die wollte ich blicken, so wie ich all den Tieren, die in Jamrachs Hof kamen und gingen, in die Augen blickte. Wieso tat ich das? Ich weiß es nicht. Hab es nie herausbekommen.
    An jenem ersten Morgen waren wir allesamt riesengroße Narren, die mit klopfenden Herzen wild durcheinanderrannten und alles, was sie anfassten, verkehrt machten. Wir wussten nichts, überhaupt gar nichts, und auch einander kannten wir noch nicht. Acht von uns waren absolut grün hinter den Ohren, acht von rund zwanzig Männern – Männern, sage ich –, vierzehn Jahre alt war Felix Duggan, unser Jüngster, ein großmäuliger Bursche aus Orpington, sechzig unser Ältester, ein dürrer Schwarzer namens Sam. Gott sei Dank hatte Dan ein Auge auf uns, war stets in der Nähe, aber nicht zu nah. Sieben Jahre zuvor war ich ihm zum ersten Mal begegnet, aber richtig kennen lernte ich ihn erst, als wir zusammen segelten. Jetzt kenne ich ihn. Ich kenne ihn jetzt besser als irgendwen sonst.
    Die Lysander war eine gut erhaltene alternde Schönheit, klein und schmuck. Der Kapitän sah sich vom Achterdeck aus an, wie wir uns zum Narren machten, während der erste Offizier, ein rotgesichtiger, leicht aufgedunsener Irrer, der Mr Rainey hieß,
umhermarschierte und uns auf konfuse Weise verfluchte und beschimpfte. Um Gottes willen, was habe ich da bloß gemacht, dachte ich. Bin ich verrückt geworden? Oh Mama. Die Masten und die Rahen und die Segel, all das da oben über mir war das Netz einer verrückten Spinne am Himmel. Taue, Taue, eine Million Taue und jedes mit einem eigenen verdammten Namen, und wenn man das falsche erwischte, vermasselte man das Ganze. Wie wir überhaupt jemals loskamen, ist mir ein Rätsel. Es war das Werk der Wenigen, die wussten, was sie taten: der alte Schwarze namens Sam, ein anderer Schwarzer, der Gabriel hieß, ein großer Orientale namens Yan und unser Dan. Diese vier machten das Schiff klar, mit der Hilfe von ein paar Burschen, die zwar kaum älter als Tim und ich, aber vielleicht schon ein- oder zweimal gesegelt waren und sich deshalb für alte Seebären hielten. Wir Grünschnäbel stolperten dazwischen herum und standen allen im Weg. Ich sah Tim nicht mehr. Sah Dan nicht mehr. Die ganze Zeit versuchte ich so zu wirken, als würde ich gerade ganz souverän eine wichtige

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