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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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könne, müsse sich eben einen Vorleser suchen.
    »Prägt sie euch sorgfältig ein«, sagte er. »Sie sind jetzt eure Bibel. Und dies hier!« – wie ein Magier, der die Menge zum Aufstöhnen bringt, zauberte er aus dem Nichts plötzlich eine grässliche Geißel hervor – »ist das, was das Schiffsgesetz als Strafe für jeden vorsieht, der diese Regeln verletzt. Jeden . Ohne Ausnahme.«
    Er hielt es hoch, ein bösartiges, zusammenklappbares, behaartes Lederding.
    »Seht euch das Ding jetzt sehr genau an, denn ich werde es wieder weglegen, und ich hoffe ernsthaft, dass ich es während unserer gesamten Reise nicht mehr sehen muss.«
    Die Knute schwang langsam vor unseren mitwandernden Augen hin und her.
    »Genug davon!«
    Er warf sie Mr Comeragh zu, der ein überraschtes Gesicht machte, sie aber geschickt fing. »Mr Rainey«, sagte der Kapitän und wandte sich höflich an ihn, »stellen Sie jetzt die Bootsmannschaften zusammen.«
    Mr Rainey nahm eine Liste und las Namen vor. Jetzt, wo er nicht schrie und herumbrüllte, konnte man sogar etwas mehr in ihm sehen als eines dieser steinernen Monster draußen an Kirchen. Mit seinen vollen Lippen und den insgesamt verwegenen Gesichtszügen war er attraktiv und hässlich zugleich und sah aus, als missfalle ihm das Leben. Zum Glück waren wir alle vier, Linver, Brown, Rymer und ich, auf Mr Comeraghs Boot, das war eine große Erleichterung. Comeragh war der beste der drei Bootsführer. Und als die Wachen aufgerufen wurden, gehörte ich wieder zu Comeraghs Wache, aber Tim und Dan kamen zu Rainey. Ich wusste nicht, ob das etwa hieß, dass sie besser wa
ren als ich, war aber trotzdem froh, dass ich nicht zu Raineys Wache gehörte.
     
    »Dieser alte Pott«, sagte Gabriel, der große, junge Schwarze mit den Muskeln eines Ringkämpfers. »Was hab ich mir bloß gedacht? Ich wette, der schafft es nicht mal bis zum Kap.«
    »Doch, der schafft das«, sagte Dan. »Das Schiff ist alt, aber gut erhalten.«
    »Solche sieht man heutzutage kaum noch.«
    »Stimmt. Bald gibt es gar keine mehr.«
    Das erste Abendessen an Bord. Alle aus dem Logis hatten sich bei den Trankochkesseln um ein riesiges Stück Pökelfleisch versammelt, das wie ein Stein auf einem Bottich lag, den sie den »Kleinen« nannten. Wir schnitten mit unseren Messern Streifen vom Fleisch herunter und legten sie auf unsere Teller. Das Salz im Fleisch brannte auf meiner Zunge.
    »Proctor gibt hier wohl gar nicht die Befehle«, meinte Gabriel.
    »Nein. Das macht Rainey«, sagte ein braunhaariger Junge aus Yorkshire, der mit dem Schiff aus Hull gekommen war. »Der hat das Sagen. Ihr müsst euch an Rainey halten.«
    »Meinst du wirklich?«, fragte der Junge, den Rainey geschlagen hatte, und wackelte mit den Knien. Er hieß Edward Skipton, aber alle nannten ihn Skip.
    »Ja, auf jeden Fall.« Der Yorkshire-Junge setzte seinen Becher ab. »Vor zwei Jahren war ich mit ihm auf der Mariolina . Er war da zweiter Offizier. Rainey kennt sich aus, der kennt sich wirklich aus. Proctor ist doch fast so ein Grünschnabel wie du.«
    »Und ich bin grüner als Gras«, sagte Skip leise.
    »Allmächtiger!« Tim versuchte gerade, ein dünnes Stück Schiffszwieback mit den Zähnen durchzubrechen, und verrenkte sich fast den Kiefer.
    »Rainey ist ein harter Brocken«, sagte der Yorkshire-Junge, »aber er ist nicht der Schlimmste. Das ist kein schlechtes Schiff, eigentlich ein Kinderspielplatz. Ihr habt Glück.« Er wirkte jung, sprach aber, als fahre er schon seit Jahren zur See.
    Gabriel stimmte zu. »Proctor wird noch froh sein über Rainey. Eigentlich eignet er sich nicht als Kapitän.«
    »Woher weißt du das?«, fragte Tim.
    Gabriel spießte ein Stück Fleisch mit seinem Messer auf. Er war älter als wir, ein erwachsener Mann. »Ich hab schon ein paar erlebt«, sagte er, lehnte sich zurück und zog ein Stück gepressten Tabak aus der Tasche.
    Die erste Wache war die Backbordwache, und das war ich. Es war eine schöne Nacht mit hellen Sternen und vollem Mond. Alle lungerten auf dem Deck rum, Felix Duggan hantierte mit seinem Besen, Comeragh spielte mit dem Hund. Der Koch, ein riesiger Mensch aus der Karibik mit einem Gesicht, das niemals lächelte, stand in der Tür der Kombüse und rauchte eine Pfeife. Zuerst war es nur wunderbar, völlig berauschend, dieses Leben auf dem rollenden Schiff, das sämige schwarze Wasser, das unter der Schiffslaterne strudelte, das Tock, Tock, Tock eines Hammers irgendwo, das Knarren und Quietschen von Planken und

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