Der Atem der Welt
Spieren. Bis mich nach und nach, in einem schleichenden Prozess, so dass ich es zunächst kaum wahrnahm, ein Unwohlsein befiel. Das friedliche Steigen und Sinken der Reling, die tanzenden Flecken auf den Decksplanken, das Hin- und Herschwappen des Wassers, das klang, als klatschte Wasser gegen die glitschig grünen Pfähle eines Kais in Bermondsey. Ich schloss die Augen. In der Dunkelheit bewegte sich alles, stieg und sank, richtete sich auf und fiel wieder. Das Leben schien lang und seltsam und schwierig. Was war los? Aus meiner glühend heißen Stirn brach kalter Schweiß. Oh nein, bitte nicht. Mir war schlecht, das war los.
Ich öffnete die Augen. Niemand sonst sah krank aus. Wenn
ich bloß bis Mitternacht, bis zum Ende meiner Wache durchhalten würde. Bitte nicht ich. Nicht ich. Bleib stark. Auf und nieder, auf und nieder wogte der dunkelblaue Horizont. Wir befanden uns im Ärmelkanal, schon weit draußen auf dem Meer, wie mir vorkam, was jedoch lächerlich war, wenn man bedachte, wie weit wir noch fahren mussten. Scheiße. Jetzt kam es. Nichts zu machen. Ich rannte an die Reling und erbrach Flüssigkeit. Nur Flüssigkeit. Gut. Damit wäre es erledigt. Aber dann kam es erneut, mit mehr Macht, große, unverdaute Stücke Zwieback, die sich nicht hatten zerkauen lassen, schleimige rosa Würmer aus Schweinefleisch, die mir zwischen den Zähnen stecken blieben, so dass ich erneut würgen musste.
Skip sah es.
»Wenn es erst mal hoch- und rauskommt, ist es vorbei«, sagte er, als ich zurückwankte.
Das war allerdings eine verdammte Lüge.
In diesen ersten Tagen lernte ich eine bittere Lektion: Wenn man seekrank ist, muss man trotzdem weiterarbeiten.
Comeragh kam vorbei. »Ganz ruhig«, sagte er. »Es geht vorüber. Jeder Kapitän war mal ein Grünschnabel.«
Es ging vorüber, aber nicht für immer. Ich erinnere mich nur noch an wenig, an das Gewimmel an Deck, die ruhige Bewegung des Wassers, das rollende Stampfen des Schiffs durch die Wellen und das merkwürdige Leuchten des Meeres, das zu singen schien. Halb schlafend blickte ich auf die Reling, die unvorstellbar hoch stieg, unvorstellbar tief fiel, nichts blieb jemals still und unbewegt. Ich war wieder froh, dass ich zu Comeraghs Wache gehörte. Sicher, er hatte mir eine Ohrfeige verpasst, aber nicht zu heftig. Es ging vorüber, wie alle Dinge im Leben, und endlich erlöste mich die Mitternacht, und ich taumelte wacklig hinunter ins Logis und in meine Koje. Ich stolperte im Dunkeln und stieß gegen jemanden, der stöhnte. Meine Matratze piekste. Die Dunkelheit wiegte mich wie eine Mutter. Die Balken ächz
ten. Und der Geruch, schwer, tranig, blutig, ordinär, ein Geruch nach Rauch und Körpern, nach Salz und Teer. Ich weinte nach meiner Mama. Ich schlief mit geschlossenen Augen und hellwachen Sinnen. In meinen Träumen wimmelte es von verlorenen kleinen Babys, die wimmerten und an Fläschchen nuckelten. Sie hatten weiche Fingerchen, lagen auf dem Rücken, hilflos und ausgeliefert, voller Schmerz über einen ungeheuren Verlust, der ihnen unbegreiflich war. Woher wusste ich das? Keine Ahnung. In meinem Kopf fand ein ständiges Schwellen und Schrumpfen statt. Ich erwachte immer wieder, sank und stieg. Ishbel kam. Sang: Komm zu mir, mein Herz, komm zu mir, Liebster. Sie hielt meinen Kopf an ihre Brust und öffnete ihr Mieder für mich, und als der Morgen kam, hing ich über meiner Koje und stöhnte. Das Stöhnen wurde von einem anderen Stöhnen beantwortet. Ich blickte hoch und sah einen schwarzen Jungen, der sich aus seiner Koje beugte und sich in einen Holzeimer übergab, den der Chinese Yan hielt. Yan hockte neben ihm mit zerzaustem Haar und fast nackt. Der süßliche Gestank von Erbrochenem hing in der Luft. Das Schiff torkelte. Jemand würgte, jemand spuckte, jemand stöhnte. Ich machte den Mund auf, und es kam ein rasselnder Laut heraus, ein Geräusch wie von einem Hund, der fast an einem Knochen erstickt. Yan drehte den Kopf, murmelte leise etwas in seiner eigenen, seltsam abgehackten Sprache und schob mir, mit einer raschen Bewegung, den Eimer unters Gesicht. Ich blickte in den klumpigen Auswurf aus dem Magen des schwarzen Jungen, schloss die Augen und würgte meine Innereien aus.
Und? Hätte man es sich nicht denken können? Tim in seiner goldenen Glorie wurde nicht seekrank. Nein, nie. Bei keinem Unwetter, bei keiner langen Dünung, nie. Und ich und noch sieben oder acht andere, wir heulten und sabberten, uns kehrte sich das Innerste nach außen, als
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