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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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würde das Böse aus einer ansonsten vollkommenen Welt ausgetrieben.
    Durch die offene Luke drang grelles Tageslicht. Töte mich, auf der Stelle. Ich kann nicht aufstehen. Mama, komm und leg mir deine liebe kühle Hand auf den Kopf und flüstere mir zärtliche Sachen zu. Sag: Armer kleiner Jaff, bleib schön im Bett und versuch wieder zu schlafen. Meine Matratze stank. Und da war das grinsende Clownsgesicht von Mr Comeragh, der schrie: »Hoch! Hoch mit euch, Jungs! Jetzt reicht's.«
    Yan überließ dem schwarzen Jungen und mir den Eimer.
    »Beeil dich, Jaff«, sagte Comeragh fröhlich, »los jetzt, Bill.«
    Wie wir es an Deck schafften, ist mir bis heute unklar, aber irgendwie gelang es uns. Es gab kein Erbarmen, nicht den kleinsten Hauch: Du hast gearbeitet, du hast in die Bilgen gekotzt, du hast gearbeitet, und fertig. Felix Duggan, der Schiffsjunge, ein bleichgesichtiger Bursche von vierzehn mit großen, weichen Lippen, war an jenem entsetzlichen Morgen der Erste am Masttopp. Sein Mund stand offen, die Unterlippe hing elend herunter. Ach, dachte ich, ach, bring mich nach Hause, bring mich nach Hause und lass mich nie wieder das Meer sehen. Ob man sich wohl jemals daran satt sehen kann, am Meer?, hatte sie gefragt, als sie neben mir auf der London Bridge stand. Oh ja, liebe Ishbel. Ja, man kann.
    »Das ist doch blöd.« Felix machte ein finsteres Gesicht, stieß mit den Zehen gegen den Hauptmast und blinzelte ein paar Tränen weg. »Wieso ich? Wieso nicht du?« Er wandte sich an Henry Cash, einen wachsamen, hochnäsigen Typ, der sich seine seefesten Sporen vor ein paar Jahren verdient hatte und darauf Wert legte, dass das auch jeder begriff. Wie ihm das allerdings gelang, weiß ich nicht, denn er redete mit so gut wie niemandem. » Du bist nicht seekrank. Er ist nicht seekrank.« Er zeigte auf Tim. »Wieso ich?«
    »Was weiß ich«, sagte Henry Cash ungerührt, »geh doch zu Rainey und frag ihn, wenn du dich traust.«
    »Hier im Meer gibt es gar keine Wale«, sagte der Yorkshire-
Junge, der schon mit Rainey gesegelt war. John Copper. Allmählich lernte ich die Namen.
    »Wer sagt das?«, fragte Cash.
    Felix putzte sich wütend die Nase. »Ist doch sinnlos, auf Walfang zu gehen, wenn es gar keine gibt!«
    »Ich denke, das entscheidet der Kapitän«, sagte Cash, lächelte lässig und ließ uns stehen.
    »Der geht jetzt zu Rainey und kriecht ihm in den Hintern«, murmelte John Copper.
    »Soll mal lieber auf seinen Kopf aufpassen, wenn ich da oben kotzen muss.« Felix rotzte brutal aufs Deck und begann schwerfällig mit dem Aufstieg zum Mast für seine zwei Stunden.
    »Es gibt hier keine Wale«, wiederholte John Copper. »Wer behauptet das Gegenteil? Wer behauptet das? Proctor? Der hat doch keine Ahnung. Es gibt hier keine Wale.«
    Und es gab auch keine, jedenfalls sahen wir keine, nicht bis hinter den Kapverden. Und da hatte ich mich längst in das Seemannsleben verliebt. In manchen Stunden, in manchen Nächten, da wusste ich einfach, dass ich endlich an dem Ort angekommen war, zu dem es mich im Mutterleib hingezogen hatte. Das Logis war der neue Mutterleib, und ich hätte nirgendwo anders sein mögen, nicht einmal oben im Zwischendeck, wo Dan war, der sein Abendbrot inzwischen direkt neben der Kombüse aß. Zu nah beim Kapitän und den Offizieren, das Zwischendeck, da musste man sich in acht nehmen. Das Logis war der beste Platz. Wir hatten Sam mit seiner schaurigen Singerei und einen Jungen von Cape Cod, der Simon Flower hieß und Fiedel spielen konnte. Wir schwatzten abendelang, und der Rauch bildete Wolken und Fäden über unseren Köpfen, und in diesen Wolken und Fäden sah ich blaue Welten, nebliges Hochland, eine ständig sich verändernde Landschaft, bis eines frühen Morgens, zwei Wochen nach unserer Abfahrt, Gabriel, der Wache hatte, oben vom Ausguck rief: »Land in Sicht!«,
und da erschienen sie am Horizont, so real wie die Planken unter meinen Füßen.
     
    Hohe blaue Berge, übereinandergeschichtete Streifen am Himmel – purpur, grau, violett, rosafarben. Ich holte eilig mein altes Fernrohr, Dan Rymers Fernrohr. Sie waren herrlich, die Azoren. Das Wetter war mild und warm und lieblich. Wir ankerten vor Horta, das auf der Insel Faial liegt. Ich sah weiße Gebäude, den Turm einer Kirche und einen gewaltigen Bergkegel, der sich scharf vor dem klaren Himmel abzeichnete und am Fußende von einem dichten Ring flauschiger weißer Wolken umgeben war. Ich hatte noch nie einen Berg gesehen, und dieser hier war

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