Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
flackerten, er richtete seine Mütze. »Vielen Dank, Mr Rainey«, sagte er verbindlich, »ein guter Vorschlag. Copper mit Flower, vernünftige Mischung.«
    Es war eine gute Wahl. John Copper wusste, was er zu tun hatte. Später erzählte er mir, er habe seit seinem sechsten Lebensjahr am Fischstand seiner Tante in Hull gearbeitet. John maß ehrlich ab mit einem Quartgefäß und einem Halbliterbecher und hatte vor lauter Konzentration steile Falten zwischen
den Augen. Es war lustig, ihm bei seinem Hin- und Herspringen zwischen Yorkshire-Dialekt und portugiesischem Kauderwelsch zuzuhören, während er beherzt mit den lärmenden Frauen feilschte. »Tres, Senhora, tres so! Bastante! Obrigado, obrigado, depois por favor.«
    Wir anderen, die wir mit an Land gefahren waren, hatten frei und konnten in der Stadt herumstreunen, und es war wirklich ein hübscher kleiner Ort. Enge Gassen mit Kopfsteinpflaster, Esel und Blumen und weiße Häuschen mit gemusterten Kacheln an den Wänden. Es gab auch einige prächtige Gebäude mit schönen Balkons, die, üppig mit Blumen geschmückt, über der Straße hingen. Doch die meisten Häuser waren ärmlich, und die Kinder, die mit glänzenden schwarzen Augen aus den Hauseingängen spähten, waren barfuß und zerlumpt. Die Männer wirkten abgerissen. Viele Frauen trugen Krüge auf dem Kopf und waren trotz des warmen Wetters in lange Umhänge und steife Hauben gekleidet. In den Läden gab es nichts, was wir gerne besessen hätten, aber Geld hatten wir ohnehin nicht. Und so wanderten Tim und ich nach einer Weile auf einem schmalen, ansteigenden Pfad, der rechts und links dicht mit rosa- und violettfarbenen Blumen gesäumt war, aus der Stadt hinaus. Unterwegs sahen wir zwei Ochsen, die einen hölzernen Pflug zogen, und einige Männer, die auf den Feldern hackten. Hohe Bambushecken unterteilten das Gelände. Hier und da standen Hütten mit schäbigen Strohdächern.
    Wir liefen so lange bergauf, bis es um uns herum waldig wurde. Über mächtige Felsen stürzte Wasser in die Gräben zu beiden Seiten des Pfads.
    »Dass das hier so rumsteht«, sagte ich, »und sogar für immer.« Einen Moment lang schien mir, Unglück sei etwas undenkbar Blödsinniges. Ich dachte an meine Mutter, die in Limehouse Fische ausnahm, und an Ishbel, wie sie die Bühne im Quashies verließ, süß und verschwitzt.
    »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Tim.
    Das mit Tim und mir war komisch. Ich glaube nicht, dass wir uns jemals richtig unterhalten haben, so wie man sich eine ordentliche Unterhaltung vorstellt und wie ich sie mit anderen hatte. Mit Skip zum Beispiel. Also Skip und ich konnten tage- und nächtelang schwatzen. Aber Tim und ich, wir unterhielten uns nie. Aber wir wussten Bescheid. Wussten, was der andere meinte. Fühlten es.
    Plötzlich sahen wir eine Gestalt, die sich dunkel gegen den Himmel abzeichnete. Sie saß auf einem hohen, flachen Felsen, vollkommen reglos, und schien vielleicht in ein Buch auf den Knien vertieft. Skip. Etwas wirkte seltsam an ihm, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es diese Regungslosigkeit war. Ich hatte ihn noch nie so still erlebt. Skip war ein unruhiger Geist. Wenn er stand, wippte er hin und her, wenn er saß, klopfte er mit einem Knie gegen das andere.
    »Was machst du da, Skip?«, brüllte Tim.
    Skip zuckte zusammen.
    Tim kletterte auf den Felsblock und grinste.
    »Scheiß auf euch.« Skip sagte das so wie alles, was er sagte, ruhig und kontrolliert. »Hier einfach so rumzuschleichen! Wieso sagt ihr nicht, dass ihr da seid? Sich einfach so anzuschleichen!«
    »Wer schleicht sich hier an?«
    »Na du, du Scheißer.«
    Ich folgte Tim.
    Es war schön auf dem Felsen, warm und luftig. Im Schneidersitz hockten wir da, Indianer beim Kriegsrat.
    »Was machst du hier?«
    »Ich zeichne.« Skip schob uns das Buch hin.
    Da war die Insel, mit Blick auf den Vulkan, nur wenige graue, fedrige Striche, die irgendwie zu einem Bild wurden.
    »Hübsch«, sagte Tim.
    Ich blätterte eine Seite zurück. Da war der Hafen, und da lag die Lysander in der Bucht, mit jedem Mast, jedem Segel, jeder Spiere. Ich blätterte weiter zurück, und da waren wir alle, unsere Gesichter, unsere Hände, die Art, wie wir an der Reling lehnten oder beim Essen vor dem »Kleinen« hockten – Yans sehr flächiges Gesicht, Comeraghs schlaksige Haltung, Bill, mein Leidensgenosse, beim Abendessen mit seinem typischen wilden Haarschopf. Wilson Pride, der im Eingang zur Kombüse stand und eine

Weitere Kostenlose Bücher