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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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bin. Und dass es weitergeht, normal und vernünftig. So hielten uns der Kapitän und Mr Rainey auch ständig dazu an, auf unser Äußeres zu achten, sagten, wir sollten uns mit der Schneide eines Messers rasieren, die Zähne sauber reiben, die Haare kämmen
und unsere Abend- und Morgengebete sprechen. Die Gebete waren Dans Aufgabe. Auch darin war er gut.
    »Lieber Herr Jesus, der du für uns gestorben bist.« Eine ruhige, aber klangvolle Stimme, die von unserem Boot zum anderen trug. »Erbarm dich unser in dieser beschwerlichen Zeit. Wir sind zwölf Seelen, die auf deinem weiten Ozean treiben und dich um Hilfe bitten. Schick uns, oh Herr, ein Segel. Amen. Und jetzt sprechen wir das Vaterunser . . .«
    Zwölf murmelnde Männer, mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen.
    Tage vergingen.
    Sinnlos, sie zu zählen. Vor langer Zeit hatte Skip einmal gesagt, die Zeit selbst sei komisch geworden, und das stimmte. Sie war der Traum zwischen zwei Lidschlägen, und sie war ein ganzes Leben. Wenn ich heute daran denke, dann ist es so, als hätte ich vor langer Zeit schon einmal ein komplettes Leben gelebt, wäre in jenes Leben hineingeboren, hätte es gelebt und wäre darin gestorben.
    »He, wach auf, Jaff.«
    Dan hatte eine zittrige Hand, da ihm sein Alkohol fehlte.
    »Du träumst«, sagte er. »Was ist los? Verfolgt dich irgendwas?«
    Ich schüttelte den Kopf. Einen Sack Wasser in der Brust. Einen Stausee voller Tränen.
    Träume. Der Drache, größer als in Wirklichkeit, marschierte wie ein Mensch auf den Hinterbeinen über das Deck der Lysander . Ich zuckte zusammen und blinzelte die Feuchtigkeit von meinen Wimpern. Das Erste, was ich sah, war Mr Rainey, der, mit flammenden Augen, einen grauen Klumpen in seine Hand spuckte. Sein Gesicht war gelbgrün, jämmerlich. Ich blickte mich um, konnte das Kapitänsboot nicht sehen.
    »Sie sind weg!«, schrie ich.
    »Nein nein nein.« Gabriel, zuverlässig am Ruder. »Sie sind da.«
    Die Wellen bildeten tiefe rollende Täler. Das Kapitänsboot tauchte auf und verschwand wieder, manchmal minutenlang. Wenn sie in Sicht kamen, sahen wir sie Wasser ausschöpfen, genau wie wir. Nie waren weniger als drei von uns damit beschäftigt, und trotzdem schwammen alle Dinge im Boot, auch das arme Schwein. Das Schwein tat mir leid. Weiß der Himmel, was es über das Leben dachte. Wenn es Verstand gehabt hätte, müsste es ihm sehr merkwürdig vorgekommen sein. Die Schweine und wir, wir waren mittlerweile alle gut eingesalzen. Das Salz hinterließ eine Art Raureif auf unseren trockenen Lippen und um unsere roten Augen, zeichnete Muster, raffiniert wie Schlieren in einem Stein, auf unsere dreckigen Kleider. Wasserwesen waren wir allesamt. Und es war egal, ob es regnete oder nicht, nur dass das Boot sich bei Regen schneller füllte und wir alle sofort lenzen mussten, im selben Rhythmus, mit brennenden Muskeln, ohne Zeit zum Nachdenken. Man schöpfte, bis man mit Schlafen dran war, schlief im Wasser, wachte auf, schöpfte wieder. Weinte blöde, schniefte. In meinem Kopf geisterten ständig ein warmes Bett und ein Feuer. Wirbelnde Bilder eines tanzenden Saals und der Geruch nach Bier und Schweiß und dem Puder von Damen. Wir bekamen unseren Zwieback, bekamen unser Wasser. Immer war Tims Gesicht da, stur, unlesbar, manchmal sogar lächelnd. Meer und Himmel stiegen und fielen. Jeden Tag machten wir dasselbe. Mit meiner Wasserration war ich gut, ich konnte sie strecken. Tim machte das auch. Manchmal schloss er die Augen und verkroch sich hinter das Großsegel und wiegte sich. Es blies uns weiter und weiter. Rüttel, schüttel. Komisch, wie die Zeit vergeht. Leben auf Leben getürmt, eines über das andere, der Scheißefluss, der Highway, die Lysander und jetzt das hier. Unsere Gesichter, die nur einander sahen, Tag um Tag, bis keiner mehr wusste, wer wer war, wir waren alle eins: eine seltsame, mühselig rackernde Kreatur, die sich die ausgedörrten Lippen befeuchtete, mit wunden Augen zum Horizont glotzte.
    Eines Tages änderte sich der Himmel, und gegen Nachmittag hatten wir klares Wetter. Unsere Boote kamen zusammen.
    »Himmelherrgott«, sagte Tim, »sieh dir die an!«
    »Wir sehen genauso aus«, sagte ich.
    »Wie ist euer Brot?«, rief der Kaptän herüber. »Unsres ist nass.«
    »Lässt sich nicht vermeiden«, erwiderte Mr Rainey. »Unsres auch, aber nicht alles.«
    »Bei uns so gut wie alles«, sagte der Kapitän. »Alle Mann tapfer da drüben?«
    »Aye, aye, Kapitän, hier sind alle in guter

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