Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Lebensperiode des Atlantiks selbst zusammenfällt, waren wir Menschen zugegen, traten wir auf den Plan, entwickelten uns und – jedenfalls denken wir das gern – griffen sofort verändernd in alles ein. Nur indem man auch diese zweite Geschichte erzählt – die in der ersten wie ein Sandkörnchen in einer großen Muschel eingebettet liegt –, können wir einen wirklich erschöpfenden, vollständigen Bericht über das Leben des Atlantischen Ozeans ablegen. Die Geschichte vom physischen Sichauftun und Wiedervergehen des Ozeans bildet dann den Kontext, den Rahmen für die Geschichte von der intimen Beziehung des Menschen zu ihm, von seiner engen Verstrickung mit ihm.
Diese zweite Geschichte nahm ihren Anfang, als die ersten Menschen sich an den Ufern des Atlantiks niederließen. Der Mensch begann höchstwahrscheinlich erstmals in Südafrika ans Meer zu drängen, und zwar geschah dies wohl – was ein Glücksfall für die vorliegende Darstellung ist – an den dortigen Atlantikküsten. Was sich von jenem Augenblick an ereignete, ist so kompliziert und multidimensional, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann: Die Geschichte vom Menschen und dem Meer wird zu einer Saga von vielen Völkern und Individuen, von unterschiedlichen Sprachen und Bräuchen, von einem komplexen Geflecht aus Handlungen und Ereignissen, Errungenschaften und Entdeckungen, Irrtümern und Streitigkeiten. Es ist eine verwickelte Geschichte und nicht einfach zu erzählen. Ein schlichter chronologischer Aufbau mag sich für die Darstellung des Entstehens des Ozeans selbst eignen – doch für die Darstellung der so vielfältigen und unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen mit und von ihm lässt sich kein so simples Strukturprinzip finden.
Denn wie sollte man die Eindrücke und Erlebnisse, sagen wir, eines liberianischen Fischers mit denen eines Matrosen auf einem vor Island patrouillierenden Atomunterseeboot verknüpfen? Oder das Leben eines Bergmanns in den Amethystminen an den Küsten Namibias in irgendeine Beziehung zu dem des amerikanischen Regisseurs von Die Männer von Aran , einem Dokumentarfilm über die gleichnamige Inselgruppe von 1934, setzen? Wie sollte man über den Kapitän einer Boeing von British Airways und den Kommandanten eines Eispatrouillenschiffs vor der Küste der Insel South Georgia schreiben? Wie sollte man irgendeine Ordnung in diese merkwürdige und so bunte Vielfalt bringen? Wie sollte man das alles auf sinnvolle Weise miteinander verknüpft und überschaubar darstellen?
Das blieb lange Zeit eine unbeantwortete Frage für mich. Ich wollte unbedingt die Geschichte des Ozeans schreiben. Doch welches war die geeignete Struktur für eine solche Darstellung? Was dieses Problem betraf, schwamm ich sozusagen, trieb ich hilflos auf hoher See.
An jenem Tag jedoch, als ich aus dem Flugzeug auf die Wogen hinunterstarrte, kam mir der rettende Einfall: Wenn der Ozean ein eigenes Leben besitzt, könnte dann nicht auch der Beziehung des Menschen zu ihm so etwas wie ein Leben innewohnen? Schließlich zeigen Fossilien und Grabungsfunde, dass auch diese Beziehung auf eine bestimmte Geburtsstunde zurückzuführen ist. Sie wird vermutlich auch eine Todesstunde haben – sogar der eingefleischteste Optimist wird zugeben müssen, dass ein Ende der menschlichen Existenz abzusehen ist, dass es in ein paar tausend, vielleicht auch zehntausend Jahren vorbei sein wird mit uns – und es damit auch diesen Aspekt der Geschichte des Atlantiks nicht mehr geben wird.
Also: Biographie, das heißt die Entwicklung dieser menschlichen Beziehung mit dem Atlantik von ihren Anfängen an zu ermitteln und sie in den Kontext des viel überschaubareren Lebens des Ozeans zu platzieren – das war möglicherweise ein gangbarer Weg. Doch dann waren da die Details, entmutigend viele. Die menschliche Geschichte stellt sich als eine solche Flut von Fakten, Ereignissen und Personen dar, dass es sich als nahezu unmöglich erweisen könnte, gegen sie anzuschwimmen und den Kopf über Wasser zu halten.
Am Ende wurde mir aus heiterem Himmel ein Rettungsring zugeworfen, und zwar von ganz unerwarteter Seite – der Helfer in der Not war nämlich jemand, den man absolut nicht mit dem Meer in Verbindung brachte: William Shakespeare.
Viele Jahre lange hatte ich auf öden Flugreisen immer eine schon recht zerfledderte Ausgabe von Seven Ages dabeigehabt, einer Lyrikanthologie, die in den frühen neunziger Jahren von dem ehemaligen britischen Außenminister David Owen
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