Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
nicht getobt hatten. Das durch das schwere Kabel an seinem Deck topplastige britische Schiff wäre in einem von ihnen beinahe gekentert. Und schon wie zuvor hörten die Kabel nicht auf zu brechen und für immer im Meer zu verschwinden.
Als die Kosten immer mehr anstiegen, wuchs daheim in London bei den Direktoren der Gesellschaft die Verzweiflung. Einige meinten schon, das Projekt sei technisch nicht zu verwirklichen und man solle es aufgeben. Die Presse begann höhnische Kommentare abzugeben. Man machte sich sogar in Gedichten über das Unternehmen lustig. Das Vertrauen in das Unterfangen war erschüttert, ja beinahe ganz geschwunden.
Doch dann, im Spätsommer 1858, nach drei weiteren fehlgeschlagenen Versuchen, trafen sich die beiden Schiffe noch einmal auf hoher See. Am 29. Juli wurden die Enden der beiden Kabel erneut miteinander verbunden, dann entfernten sich die Agamemnon und die Niagara wieder in entgegengesetzter Richtung voneinander. Alles verlief wie gehabt, nur dass sich diesmal unerklärlicher- und wunderbarerweise keinerlei Probleme einstellten. Am 4. August lief die Niagara in die Trinity Bay auf Neufundland ein, während die Agamemnon einen Tag später vor dem sechzehnhundert Meilen entfernten Valentia Island eintraf. Die Leitung, die sie mitten im Ozean zusammengefügt hatten, war noch intakt. Und auch als Matrosen an jedem Ende das Kabel zu den bereits existierenden Stationen schleppten, in denen es an die größtenteils über Land verlaufenden Leitungen nach London und New York angeschlossen werden sollte, schien alles noch in Ordnung zu sein.
Begeisterung griff um sich. Als die Nachricht nach London gedrungen war, dass eine Verbindung hergestellt worden sei und immer noch bestehe, äußerte sich The Times in emphatischerer Manier, als die meisten ihrer Leser es damals wohl als schicklich empfanden:
»[…] seit der Entdeckung des Kolumbus ist nichts erreicht worden, was dieser gewaltigen Erweiterung der Sphäre menschlicher Aktivität gleichkäme […] Der Atlantik ist ausgetrocknet, und wie in unseren Wunschträumen sind wir nun auch in der Realität zu einem Land geworden. […] Der Atlantische Telegraf hat die Erklärung von 1776 52 halbwegs hinfällig werden lassen und viel dazu beigetragen, uns […] wieder zu einem Volk werden zu lassen.«
Die ersten Botschaften wurden – unter der Verwendung des mittlerweile berühmten Codes von Samuel Morse – am 16. August übermittelt: Zuerst ließ Queen Victoria Präsident Buchanan ihre aufrichtigen Glückwünsche zukommen und verlieh ihrer »glühenden Hoffnung« Ausdruck, dass das neue »elektrische Kabel« die Bande der Freundschaft und Brüderlichkeit zwischen beiden Ländern über das Meer hinweg stärken würde. Die Antwort aus Washington ließ nicht lange auf sich warten: Buchanan revanchierte sich mit ähnlichen Floskeln. Die erste Nachricht geschäftlicher Art traf bald darauf in London ein: Es war eine Meldung Cunards über die Kollision zweier Schiffe, der Europa und der Arabia , die noch glimpflich ausgegangen war; beide hatten Häfen in Kanada anlaufen können. Und dann ging eine Reihe von Nachrichten über alle möglichen Ereignisse hin und her, die entweder, wie Thoreau es befürchtet hatte, äußerst trivial waren (»König von Preußen zu krank, um Queen Victoria zu besuchen«) oder, im Gegenteil, von weitreichender Bedeutung (»Lösung der chinesischen Frage: Chinesisches Reich öffnet sich dem Handel; christliche Religion wird zugelassen.«).
Doch es war zu gut, um von Dauer zu sein. Nach weniger als zwei Wochen im Wasser gab das Kabel Zeichen für einen mysteriösen, langsam fortschreitenden Verschleiß zu erkennen. Die übermittelten Nachrichten begannen keinen Sinn mehr zu ergeben, bis schließlich überhaupt keine mehr ankamen. Man konnte keine Signale mehr senden und auch keine mehr empfangen. Voller Betroffenheit gaben die Direktoren der Gesellschaft bekannt, dass das Kabel von einem unbekannten unterseeischem Übel befallen und ihm erlegen sei – anders ausgedrückt: Die Leitung war tot und ließ sich auch nicht wieder zum Leben erwecken.
Die Verbindung hatte gerade mal fünfzehn Tage bestanden, das Unternehmen also mit einem Fehlschlag geendet. Der gerade eben entstandene Superkontinent war wieder gespalten. Das Meer hatte gewonnen. Die Enttäuschung der Öffentlichkeit und die Betroffenheit der offiziellen Stellen waren derart groß, dass es acht Jahre dauerte, bis man erneut versuchte, ein solches Kabel zu legen.
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