Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
ins Meer rutschen werde. Der amerikanische Präsident sollte unverzüglich aktiv werden und Maßnahmen einleiten, damit man nicht unvorbereitet der verheerenden Gewalt einer viele Meter hohen Welle ausgesetzt sein würde, die mit einer Geschwindigkeit von nahezu achthundert Stundenkilometern über den Ozean rasen und, wenn sie auf die amerikanische Ostküste traf, einige der größeren Städte unter sich begraben würde.
Später stellte sich heraus, dass die Wissenschaftler, die die Presse als Erste informiert und die BBC bei den Arbeiten an dem Film beraten hatten, zwar der Universität London angehörten, aber von einer großen Chicagoer Versicherungsgesellschaft finanziert worden waren. Dieser Gesellschaft, Aon Benfield, kam es ohne Zweifel zupass, wenn die Öffentlichkeit von Schreckensmeldungen – »Monsterwelle wird Manhattan verschlingen!« – in Unruhe versetzt wurde. Die Seismologen im Allgemeinen hatten für Meldungen dieser Art nur Spott übrig und meinten, dass die herangezogenen mathematischen Modelle überholt und überhaupt falsch seien, dass die Möglichkeit eines Erdrutsches auf La Palma nahezu gleich null sei und es kaum jemals Tsunamis gegeben habe, die über den Atlantischen Ozean gezogen seien, wenn man auch zugegebenermaßen die Gründe dafür noch nicht ermittelt habe. Die Wissenschaftler von der Universität London zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück, um ihre Wunden zu lecken; die BBC strahlte eine Art von Widerruf aus, und vor Kurzem gab die Europäische Weltraumagentur bekannt, dass sie mithilfe von Satelliten die Stabilität des Cumbre-Vieja-Vulkans untersuchen wolle – vermutlich mit dem Ziel, der Welt versichern zu können, dass New York nicht überflutet zu werden drohte – jedenfalls in absehbarer Zukunft nicht.
Die Vulkane am und im Atlantik sind für gewöhnlich auch harmloser als die anderswo. Gewiss gibt es auch einige gefährliche, und zwar vorwiegend in der Karibik. Auf Martinique ragt der berüchtigte Mont Pelée auf, der am Himmelfahrtstag des Jahres 1902 ausbrach und nahezu alle achtundzwanzigtausend Einwohner der zu seinen Füßen gelegenen Stadt mit seinen Wolken glühender Asche und der aus ihm entweichenden sengend heißen Luft tötete.
Einige andere Vulkane sind eher lästig, als dass sie wirklich Katastrophen auslösten. Der in geologischer Hinsicht dem Mont Pelée sehr ähnliche Komplex der Soufrière Hills auf der Insel Montserrat, einer britischen Besitzung, brach zum Beispiel 1995 aus, was nicht so vielen Menschen das Leben kostete, aber die Hauptstadt Plymouth so stark zerstörte, dass sie aufgegeben werden musste. Der Staub, der im Jahr 2000 vom Eyjafjallajökull auf Island in die Atmosphäre gewirbelt wurde, behinderte den Luftverkehr über ganz Europa. Und 1961 musste die gesamte zweihundertfünfzig Köpfe zählende Einwohnerschaft von Tristan da Cunha – eine weitere Insel in britischem Besitz – nach England evakuiert werden, nachdem der dortige Vulkan ausgebrochen und die kleine Siedlung Edinburgh of the Seven Seas unmittelbar bedroht war.
Als der Ausbruch begann, flüchteten sich alle Insulaner in Langbooten zur zwanzig Meilen entfernten unbewohnten Nightingale Island, wo sie vor der Küste auf Rettung warteten, da der Atlantik offenbar sicherere Zuflucht bot als das feste Land, auf dem zu siedeln ihre Vorfahren sich entschlossen hatten. Doch zwei Jahre später, als der Berg wieder zur Ruhe gekommen war, zogen es die meisten von ihnen vor, auf ihre Heimatinsel zurückzukehren. Dort leben sie immer noch und präsentieren ihr Eiland den Besatzungen und Passagieren vorbeifahrender Schiffe stolz als die »abgeschiedenste bewohnte Insel der Welt«. Der Vulkan mag grollen und rauchen, und seine Schwefelgase mögen krank machen, die isolierte Lage mag alle möglichen Nachteile – wie auch Inzucht – mit sich bringen, und die Bewohner mögen ökonomische Not leiden, doch sie klammern sich mit der Zähigkeit von Napfschnecken an ihrem Felsen fest, als ob sie dem Ozean zeigen wollten, wer der Herr ist.
Einige der Bewohner von Tristan da Cunha und die Techniker der dreihundert Meilen weiter südlich gelegenen meteorologischen Station auf Gough Island, ebenfalls ein britisches Überseegebiet, hätten in den vergangenen Jahren etwas Merkwürdiges bemerken können.
Auf beiden Inseln – vor allem aber auf Gough Island – herrschen westliche Winde vor. Auf Letzterer sind sie für gewöhnlich sehr kräftig: Die Insel liegt in der Zone der »Roaring
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