Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
segelten er und seine Tochter Benedicte mit ihrer kleinen Yacht zu der winzigen Niederlassung L’Anse aux Meadows an der äußersten nördlichen Spitze der Insel. Dort begegnete Ingstad einem ortsansässigen Fischer, George Decker, dem er die gleiche Frage stellte, die er seinem eigenen Gefühl nach schon tausendmal gestellt hatte. Gab es in der Nähe vielleicht irgendwelche Ruinen, die von einer Wikingersiedlung stammen konnten?
Decker antwortete mit betonter Lässigkeit: »Jo! Ich weiß, wo so’n paar alte Trümmer sind. Kommen Sie mit.« Er dirigierte einen ihm wie benommen folgenden Ingstad über eine mit Torfbeeren bewachsene Heidefläche, über mit wilder Iris bestandene Lichtungen und zwischen vom Sturm verkrüppelten Fichten hindurch zu einer Stelle, wo fast ein Dutzend sehr großer grasbewachsener Hügel aufragten. Sie befanden sich alle auf einer leicht abschüssigen Fläche, die zur Epaves Bay hinunterführte. Decker sah voller Befriedigung, dass es dem Besucher bei diesem Anblick den Atem verschlug; er sei über die große Verblüffung des Norwegers erfreut gewesen, erklärte er später, er habe sich oft darüber gewundert, warum es so lange gedauert habe, bis Menschen von außerhalb gekommen seien, um nach diesen Ruinen zu fragen.
Durch Ingstads Entdeckung wurde die Welt – jedenfalls die der Archäologie – in ihren Grundfesten erschüttert. Unmittelbar nachdem man an der Stelle mit Grabungen begonnen hatte, musste die Geschichte vollkommen neu geschrieben werden. L’Anse aux Meadows – bei dem Namen handelt es sich um eine Verballhornung des französischen L’Anse aux Meduses, Quallenbucht – wurde binnen kürzester Zeit zur bekanntesten archäologischen Fundstätte von ganz Nordamerika. Es besteht heute eigentlich nicht mehr der Hauch eines Zweifels daran, dass sich dort die Operationsbasis der Nordmänner befunden hat, die aufgebrochen waren, um sich auf der anderen Seite des Meeres eine neue Heimat zu schaffen und dort ein neues Leben zu beginnen. Möglicherweise – ja sogar höchstwahrscheinlich – befand sich die von ihnen gegründete Siedlung bei L’Anse aux Meadows, und Leif Eriksson, seine Sippe und seine Familie gehörten jetzt, endlich und erwiesenermaßen, zu der kleinen erlesenen Schar von Männern und Frauen, die lange vor Kolumbus den Ozean überquert hatten. Die Grabungen gingen weiter; sie wurden im Lauf der nächsten sieben Jahre von Ingstad und seiner Frau geleitet. Das Paar schüttete die Stätte zu Beginn eines jeden Winters wieder zu, um sie gegen die wütenden Schneestürme und vor der Zerstörung durch große Eisschollen, die an den Strand geworfen wurden, zu schützen.
Offiziell wurde die Entdeckung dieser Wikingersiedlung in der Ausgabe der Zeitschrift National Geographic vom November 1964 bekanntgegeben. Dort wurde berichtet, dass die Nordmänner insgesamt drei große mit Grassoden gedeckte Steinhäuser und fünf Werkstätten gebaut hatten, von denen eine ganz eindeutig eine Schmiede gewesen war. Man war auf Eisennägel gestoßen, aber auch auf Spinnwirtel und eine Kupfernadel, die wohl zum Verzieren von Gegenständen gedient hatte. Fachleute, die einen Teilchenbeschleuniger der Universität Toronto benutzten, und Kollegen vom radiologischen Datierungslaboratorium in Trondheim setzten die modernsten Technologien ein, um die verschiedenen Fundstücke zu untersuchen – vor allem Holzkohlestücke aus dem Schmiedeofen –, und kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass alle bei l’Anse aux Meadows entdeckten Artefakte zwischen 975 und 1020 hergestellt worden waren. Die Sagas gaben – bei entsprechender Interpretation der Texte – als Gründungsdatum der Vinland-Siedlung das Jahr 1001 an. Es war so, als wäre das letzte Puzzleteilchen wie von selbst an die richtige Stelle gerutscht.
Die Ausgrabungen wurden bis 1976 fortgesetzt, nachdem die kanadische Parkbehörde anstelle der schon an Jahren fortgeschrittenen Ingstads die Leitung der Arbeiten übernommen hatte. Man legte Kochgruben frei, Badestuben und auch eine umzäunte Koppel, in der Vieh gehalten worden war. Unter den Funden waren auch verrottete Überreste von Früchten des Butternussbaums, und da Agrarklimatologen sicher sind, dass im ersten Jahrtausend nördlich von Neubraunschweig keine solchen Bäume wachsen konnten, nimmt man an, dass die Kolonisten in ihre knorren gestiegen und weiter nach Süden vorgedrungen sind. Man vermutet auch, dass sie von ihrem Lager aus westwärts segelten, die für ihren
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