Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
von London nach Rhode Island. […] Zufällig hielt sich in London gerade ein mir bekannter Kapitän aus Nantucket auf, den ich von dieser Angelegenheit in Kenntnis setzte. Er meinte zu mir, der Unterschied sei darauf zurückzuführen, dass die Kapitäne aus Rhode Island mit dem Golfstrom vertraut seien, die der englischen Paketschiffe hingegen nicht. Wir sind mit jenem Strome wohl vertraut, sagte er, da wir Walen nachstellen, die sich an seinen Rändern aufhalten, jedoch nicht in seiner Mitte anzutreffen sind. […] Ich merkte daraufhin an, es sei zu bedauern, dass diese Strömung nicht auf den Karten verzeichnet sei, und bat ihn, sie für mich einzutragen, was er bereitwillig tat, wobei er noch Angaben hinzufügte, wie man den Strom umgehen könne, wenn man von Europa nach Nordamerika segelt. Ich nahm das Blatt an mich, um eine entsprechende Karte stechen zu lassen.
Dieser Strom entsteht wahrscheinlich durch die große Zusammenballung von Wasser an der amerikanischen Ostküste […] durch die Passatwinde, die dort beständig wehen. Man weiß, dass bei einem großen, zehn Meilen breiten, aber normalerweise nur drei Fuß tiefen Gewässer von einem starken Wind das Wasser zu einer Seite gedrückt und dort gehalten wird, bis es eine Tiefe von sechs Fuß erreicht, während es auf der zum Winde hin gelegenen Seite trocken wird. Da ich diesen Strom seitdem auf der Fahrt zwischen Amerika und Europa überquert habe, habe ich auf verschiedene ihn betreffende Umstände geachtet, an denen man erkennt, dass man sich in ihm befindet, und abgesehen davon, dass er immer mit Seegras [aus dem Golf] durchsetzt ist, habe ich jedes Mal bemerkt, dass er wärmer ist als das Meer zu beiden seiner Seiten und dass sein Wasser bei Nacht nicht funkelt.«
Franklin zeichnete dann als Verständnishilfe noch eine Karte, eine, die zwar an Genauigkeit und Eleganz ein wenig zu wünschen übrig ließ, doch ein neues Untergebiet der Meereskartografie eröffnete und dazu beitrug, die Wissenschaft der Ozeanografie zu begründen.
4. Schreiben über die See
W ie der merkwürdige Name »Ozeanografie«, Ozeanbeschreibung, schon suggeriert, war diese Wissenschaft zumindest anfangs von einer gewissen Vagheit gekennzeichnet, da ihr Gegenstand nicht fest umrissen, ja »im Fluss« war. Wie sollte es möglich sein, über ein großes Gewässer zu schreiben oder es zu beschreiben, vor allem über ein tiefes, sich weit in die Ferne erstreckendes, eine Entität ohne sichtbare Grenzen, die feste Bezugspunkte lieferten, und ohne einen erkennbaren Boden? Das war so, als wollte man die unsichtbare Masse von Luft in einem Zimmer beschreiben – eine Aufgabe, die die Vorstellungskraft und die deskriptiven Fähigkeiten der Menschen der damaligen Zeit überstieg.
Es überrascht nicht, dass die Ozeanografie als eine der letzten von allen »grafischen«, im Sinne von »beschreibenden«, Wissenschaften geboren wurde. Geografie und Hydrografie, die deskriptive Analyse des festen Landes und von Gewässern wie Seen und Flüssen, waren beides Disziplinen, die im 16. Jahrhundert begründet wurden. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum hatte sich jedoch in akademischen Kreisen genügend Selbstvertrauen ausgebildet, um ein verwandtes Fach namens Ozeanografie zu begründen. Vielleicht wäre das schneller geschehen, wenn man das neue Gebiet »Ozeanologie« genannt hätte, das geschah aber nicht, und heute benutzen nur die Russen diesen Terminus.
In diese Karte des Atlantiks zeichnete Benjamin Franklin, der als postmaster general auch für den Paketbootdienst zwischen England und Nordamerika verantwortlich war, von Hand den Verlauf des Golfstroms ein.
© Mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress Prints and Photographs Division
Das Meer wies auf verschiedenen Ebenen Merkmale auf, die es ganz offenkundig wert waren, studiert zu werden. Da war die Fauna: Fische, Meeressäuger, Seevögel und andere Tiere, sowohl bizarr große als auch so winzige, dass man sie kaum fangen, untersuchen und klassifizieren konnte. Es gab botanische Phänomene: schwimmende und in der Tiefe wachsende Meerespflanzen – Sargasso-Algen in gewaltigen Mengen im Wirbelschatten des nordatlantischen Antillenstroms, Seetangbänke um die Inseln im Süden des Ozeans herum und noch Tausende andere pelagische und benthonische Pflanzen. Dann gab es auch ein einzigartiges maritimes Wetter: Vor allem Meereswinde waren zu erforschen, die häufig wechselnde Stärke und Richtung von einigen zu
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