Der Attentäter - The Assassin
Einrichtungen würden früh genug von Nutzen sein, doch fürs Erste wollte er in Calais bleiben, wo man gut für ein paar Tage untertauchen konnte.
Die blasse Mondsichel verschwand hinter einer Wolkenbank, als er die Rue Mollien überquerte und an dem Bahnhofsgebäude aus rotem Backstein vorbeiging. Ein paar Minuten darauf erreichte er den Parc Saint-Pierre. Zu seiner Linken lag das Rathaus mit dem hohen Belfried, der die Bäume und Auguste Rodins berühmte Gruppenplastik Die Bürger von Calais überragte.
Er trat dichter an das Kunstwerk heran, dessen Geschichte ihm bekannt war. Die in den Jahren 1884 bis 1895 entstandene Bronzeplastik sollte an ein Ereignis aus der Zeit des Hundertjährigen
Krieges erinnern. Die sechs dargestellten Bürger waren von den Bewohnern als Anführer ausgesucht worden und für die Verteidigung der Stadt zuständig. Als Edward III. diese im Jahr 1347 belagerte, befahl Philipp VI. von Frankreich ihnen, die Stadt um jeden Preis zu halten. Als der Nachschub ausblieb, sahen die sechs Bürger sich schließlich zur Kapitulation gezwungen, und sie boten ihr Leben und die Stadtschlüssel als Gegenleistung für das Leben der anderen Bewohner an. Obwohl die Engländer sie schließlich verschonten, blieb das Bild der sechs Männer mit der Schlinge um den Hals im Gedächtnis der Nachwelt haften, und Rodin hatte es mit seiner Bronzeplastik unsterblich gemacht.
Er blieb mehrere Minuten vor der Gruppenplastik stehen, angestrengt lauschend. Dann ging er um die Skulptur herum, um sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Obwohl er das Kunstwerk wirklich faszinierend fand - etwas an den schmerzerfüllten Mienen der Figuren sprach ihn unmittelbar an -, beschäftigte ihn weit mehr, was sich auf der anderen Seite des Boulevard Jacquard tat. Vor einer knappen Viertelstunde war er an der Kirche Notre-Dame vorbeigekommen, und seitdem war ihm irgendwie unbehaglich zumute. Dass ihm nichts aufgefallen war, sprach dafür, dass seine Fantasie ihm einen Streich spielte, aber er konnte das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden.
Der Weg schlängelte sich durch den Park, zu beiden Seiten von verwachsen wirkenden Bäumen gesäumt, die sich als dunkle Silhouetten vor dem Nachthimmel abzeichneten. Er überquerte den Boulevard, ging weiter und kam an einem ehemaligen Fernsprechamt aus der Kriegszeit vorbei, mit zwei Fahnenmasten vor der Tür, das in ein Museum umgewandelt
worden war. Die Bäume waren dunkelgrünen Hecken gewichen, und dann schreckte ihn ein plötzliches Geräusch zu seiner Linken auf - das wiehernde Gelächter eines Betrunkenen, gefolgt von einem Schwall von Flüchen und einer lautstarken Zurechtweisung.
Das ungute Gefühl verstärkte sich. Er wusste von der dunklen Seite der Stadt, die in keinem Reiseführer erwähnt wurde. Weil es nach England nur ein Katzensprung war, hatte sich Calais zu einem Sammelpunkt von Asylsuchenden aus dem Nahen und Mittleren Osten entwickelt, die aus einigen der gefährlichsten Ecken der Welt kamen - aus dem Sudan, Afghanistan und den Palästinensergebieten. Die auf Zuflucht hoffende Masse hatte sich einst auf dem großen Platz in der Nähe des Parc Richelieu versammelt, war aber ständig in Bewegung geblieben, um der örtlichen Polizei auszuweichen. Er hatte gehört, dass die Einheimischen in diesen »Asylbewerbern« größtenteils nichts als Abschaum sahen, Kriminelle, die aus ihren Heimatländern vertrieben worden waren. Ironischerweise arbeiteten aber die meisten der kriminellen Immigranten für französische Nationalisten, Männer aus der Unterschicht, die mit Verdammungsurteilen über Ausländer immer schnell bei der Hand waren.
Vanderveen konnte schwerlich mit einem der Flüchtlinge aus fernen Krisengebieten verwechselt werden, doch das war nur ein schwacher Trost. Es konnte jeden treffen, der als Ausländer erkannt wurde, und er hatte absolut keine Lust, mit einem nationalistischen Dockarbeiter Bekanntschaft zu machen, der gerade eine ausgedehnte Sauftour hinter sich hatte. Er schob seine Rechte in die Jackentasche und tastete nach dem Griff des Benchmade-Messers. Obwohl er nicht daran zweifelte, aus jeder brenzligen Situation mit heiler Haut herauszukommen, wollte er lieber noch einige Zeit in Calais bleiben. Eine unfreiwillige
Konfrontation konnte diesen Plan zunichte machen, besonders dann, wenn er gezwungen war, jemanden zu töten.
Indem er die dunklen Ecken mied, war es kein Problem, dem Betrunkenen auszuweichen, und kurz nach dem
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