Der Attentäter - The Assassin
der Aufforderung nachzukommen, entschied er sich dagegen. Ihm wurde schwindlig, seine Knie wurden weich. Die Wunde in seinem linken Arm blutete stark, beunruhigend stark, und jetzt wurde
ihm klar, dass Vanderveens letzte Kugel die Arterie im Oberarm zerfetzt hatte. Ein pochender Schmerz setzte ein, doch dann empfand er gar nichts mehr.
Er stürzte und wurde von Finsternis übermannt.
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Loudoun County, Virginia
Das aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende Herrenhaus am Fuße der Blue Ridge Mountains war beileibe kein Monticello, historisch nicht weiter bedeutsam und nur eines von vielen ähnlichen Bauwerken im ländlichen Virginia. Trotzdem war es eine angenehme Umgebung, einer jener Orte, der unter anderen Umständen von Schulklassen und Familien besucht worden wäre, die einen preiswerten Tag auf dem Land verbringen wollten. Solche Besuche hatte es freilich nie gegeben, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Windrush Manor war ein besonderer Ort.
Erbaut worden war das Herrenhaus in den Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts von William Fitzhugh, der Plantagenbesitzer und 1779 Delegierter des Kontinentalkongresses gewesen war. Im Jahr 1825 wurde das Haus mit hundert Morgen Land per Brief an einen Cousin von Fitzhugh vermacht und bis 1976 über etliche Generationen an Söhne und Töchter weitervererbt. Dann wurde es in aller Stille an Richard Helms verkauft, einen früheren CIA-Direktor. Im Laufe der nächsten drei Jahre wurde das Innere des Hauses komplett umgebaut. Anschließend mietete es die Regierung für fünfzig Jahre. Obwohl in seinen Steuerunterlagen etwas anders stand, hatte Helms nie Geld bekommen oder gefordert. Als er im Jahr 2002 starb, fiel das Anwesen an einen gleichgesinnten, verschwiegenen Unterstützer der CIA, und alles blieb, wie es war.
Seit 1979 waren in Windrush Manor Geheimdienstangehörige behandelt worden, die sich in Ausübung ihrer Pflicht Verletzungen zugezogen hatten. Die Existenz dieser Einrichtung war ein so gut gehütetes Geheimnis, dass das Herrenhaus nicht einmal mehr in der Baudenkmälerliste der Historischen Gesellschaft von Virginia aufgeführt wurde. Niemand wusste mehr etwas davon. Es war tief in den Hügeln des Piedmont verborgen und nur über eine einzige Straße zu erreichen. Wenn sich gelegentlich ein vom Weg abgekommener Autofahrer vor dem Tor wiederfand, sah er sich zwei aufmerksamen, freundlichen Wachtposten gegenüber, wie sie auch von wohlhabenden Privatleuten beschäftigt werden, die ihre Ruhe zu schätzen wissen. In den umliegenden Wäldern gab es unsichtbare, aber effektive elektronische Überwachungssysteme. Kurz, die amerikanische Regierung würde die Existenz von Windrush Manor schon deshalb nie zugeben müssen, weil nie jemand danach fragen würde.
Es war kurz nach ein Uhr mittags, als ein schwarzer GMC Yukon von der US 421 abbog und kurz darauf vor dem Tor hielt. Der Fahrer ließ die Fensterscheibe herab und wies sich als Mitarbeiter der CIA aus. Die Wachtposten waren nicht im Mindesten beunruhigt, weil dieser Besucher selbst ein erst vor zwei Wochen entlassener Patient war. Seitdem hatte er jeden Tag vorbeigeschaut, und da sie ihn kannten, hätten die Wachtposten am liebsten auf die übliche Prozedur verzichtet, doch die Vorschriften mussten beachtet werden. Sie riefen in dem Haus an, wo ihr Vorgesetzter zum Mittagessen gerade eine in der Mikrowelle erhitzte Lasagne verspeiste. Nach einem kurzen Blick auf seine Liste gab er grünes Licht, und der Besucher wurde durchgewunken.
Er fuhr auf der nassen Straße durch die sanfte Hügellandschaft, das dunkle Geräusch des Motors zerriss die mittägliche Stille. Die Eichen und Hickorybäume waren kahl, die Rinden von hungrigem Wild abgenagt. Der Yukon bog auf einen Kiesweg ab und hielt kurz darauf an. Dann wurde der Motor abgestellt, die Tür öffnete sich, und Ryan Kealey stieg aus. Er trug Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine Kordjacke.
Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich umzuschauen, die kühle Luft einzuatmen und einen Blick auf die niedrig hängenden grauen Wolken an dem winterlichen Himmel zu werfen. Es war die erste Novemberwoche, und vor zwei Tagen war bereits viel Schnee gefallen, der immer noch lag. Auch der Mühlteich war schon zugefroren. Das weiß gestrichene Herrenhaus sah aus, als wäre es ebenfalls aus Schnee, nur das Schindeldach war ein dunkler Fleck. Aus einem der beiden Schornsteine stieg grauer Rauch auf, der in dem kalten Wind nach Osten
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