Der Aufbewarier (German Edition)
an.
»Ich möchte ihr Gesicht sehen.«
Der Arzt schüttelte schweigend den Kopf.
Grahn wurde kreidebleich und schwankte, als würde er im nächsten Moment umkippen.
»Ist es so schlimm?«
Rösen legte dem Mann einen Arm um die Schultern und führte ihn aus dem Raum. Im Vorraum, der als eine Art Wartezimmer genutzt zu werden schien, war ein Dutzend Stühle an der Wand aufgereiht.
»Setzen Sie sich. Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
Grahn schüttelte den Kopf und verbarg ihn anschließend zwischen den Händen.
Rösen hatte sich vorgenommen, es ihm schonend beizubringen, aber jetzt schien ihm das auf einmal nicht mehr möglich.
»Sie können das Gesicht Ihrer Frau nicht sehen, weil wir den Kopf noch nicht gefunden haben.«
Grahn nahm die Hände vom Gesicht und griff sich an die Schulter, als würde sein Schmerz sich an der Verwundung manifestieren. Er gab keinen Laut von sich, nur eine einzelne Träne zeigte sich im rechten Auge. Er wischte sie weg und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Was wollen Sie noch wissen?«
»Wo hat Ihre Frau gewohnt.«
In einer kleinen Wohnung in der Kohlberger Straße. Was heißt klein, eigentlich ist sie zu groß für sie, seitdem Rita bei meinen Eltern lebt. Aber Martha wollte nicht umziehen. Manchmal kommt die Kleine zu Besuch und bleibt über Nacht, da wollte sie nicht nur in einem Zimmer wohnen.
Rösen zog einen Block aus der Tasche und machte sich Notizen.
»Kohlberger Straße ... Nummer?
»Zwölf.«
Rösen hatte den Straßennamen noch nie gehört.
»In welchem Bezirk?«
»Im Wedding.«
»Und wie zum Teufel kommt ein Teil der Leiche dann auf die Rote Insel?«, entfuhr es Rösen.
Grahn schaute nicht auf, sondern starrte wie schon die ganze Zeit auf den Boden. Sein Gesicht war kreidebleich. Bevor er ohnmächtig wurde, nahm Rösen den Faden einer sachlichen, polizeilichen Befragung wieder auf.
»Arbeitete Ihre Frau?«
»Natürlich. Als Jüdin blieb ihr doch gar nichts anderes übrig.«
Rösen wartete, ob Grahn von sich aus weitersprach. Als er schwieg, fragte er nach der Arbeitsstelle.
»Bei OSRAM. In der Packerei. Da wird man sie vermissen. Sie war fleißig. So fleißig.«
Siebzehn
Daut lief durch das weiträumige Gebäude. Niemand interessierte sich für einen Wachtmeister, der Tür für Tür öffnete, sich suchend im Raum umblickte und hin und wieder fragte, ob jemand einen gewissen Kurt May gesehen hatte.
Die Atmosphäre war bedrückend. Die hier untergebrachten Behörden und Ämter der jüdischen Gemeinde - darunter auch die Kleiderkammer für Bedürftige - hatten früher regen Publikumsverkehr. Deshalb gab es nicht nur kleine Büros, sondern auch einige größere Räume von fünfzig Quadratmetern und mehr. Die Fußböden waren fast vollständig mit Matratzen belegt, und überall herrschte eine drangvolle Enge. Die Menschen lagen oder saßen dicht an dicht. Die Luft war oft zum Schneiden, dazu kam der Gestank von Exkrementen. Zwar gab es auf jedem Flur eine Toilette, aber das reichte bei Weitem nicht. In die Räume der Frauen hatte man deshalb Eimer für die Notdurft gestellt.
Aus einem Zimmer hörte Daut Gebrüll. Die Tür wurde aufgerissen, und ein schon älterer Mann stolperte heraus, das Gesicht blutüberströmt. Mit vor Schreck aufgerissenen Augen ging er hastig und an die Wand gedrückt an Daut vorbei, der eine Weile brauchte, ehe er begriff, dass die Uniform dem Mann Angst einflößen musste.
Daut öffnete die Tür zu einem weiteren Büro, sah sich diesmal aber einer ganz anderen Szene gegenüber. Mehrere SS-Männer und Gestapoleute saßen um einen Schreibtisch herum, hinter dem ein SS-Hauptsturmführer auf einem Sessel mit hoher Rückenlehne geradezu thronte. Der Raum war mit Zigarettenqualm vernebelt, neben Kaffeetassen standen mehrere überquellende Aschenbecher auf dem Tisch und dem niedrigen Büroschrank, der das einzige weitere Möbelstück war. Der Hauptsturmführer schnauzte Daut sofort an.
»Was wollen Sie denn hier drin? Sorgen Sie lieber dafür, dass die Bagage da draußen verschwindet.«
Daut bemühte sich, so ruhig wie möglich zu bleiben, grüßte vorschriftsmäßig und sagte dann sein Sprüchlein auf vom Obersturmbannführer Rudat, in dessen Auftrag er in einer Mordsache den Zeugen Kurt May suche.
Der SS-Hauptsturmführer griff zum schwarz glänzenden Telefonapparat und wählte eine Nummer. Während er dem Freizeichen lauschte, fingerte er eine Zigarette aus der Packung. Daut holte sein Feuerzeug
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