Der Aufbewarier (German Edition)
wirkenden Mietshaus mit der Hausnummer zwölf.
Vor der Tür zog Rösen einen Schlüsselbund aus der Tasche, den Grahn ihm noch im Leichenschauhaus gegeben hatte.
Die Wohnung lag im dritten Stock. Die Luft war stickig und abgestanden, hier war tagelang nicht mehr gelüftet worden. Das elektrische Licht im Flur funktionierte nicht. Daut öffnete die Wohnzimmertür, um Licht im fensterlosen Korridor zu haben. An der Garderobe hing ein dunkelblauer, für die Jahreszeit viel zu leichter Staubmantel. Auf die Hutablage hatte jemand eine zerlesene Ausgabe der »BZ am Mittag« gelegt. Daut nahm das Blatt herunter. Es war die Ausgabe vom 22. Februar, sie lag also vermutlich schon über eine Woche dort.
Die beiden Polizisten betraten das spärlich möblierte Wohnzimmer. In der Mitte ein kleiner, runder Tisch mit einer karierten Tischdecke, davor zwei ungepolsterte Holzstühle. In der rechten Ecke stand ein Ohrensessel, dessen Armlehnen stark abgewetzt waren, dahinter eine Stehlampe mit braunem Lampenschirm. Die rechte Seitenwand wurde von einer Anrichte fast vollständig eingenommen. Gegenüber befand sich ein Kohleofen. Alles wirkte bieder und penibel aufgeräumt.
Daut wischte mit einem Finger über die Anrichte.
»Entweder war die Grahn eine Sauberkeits- und Ordnungsfanatikerin, oder hier hat jemand nach ihrem Tod gründlich geputzt.«
Rösen drehte sich um die eigenen Achse.
»Irgendetwas fehlt hier, aber ich weiß nicht was.«
Auch Daut sah sich noch einmal um.
»Das Radio«, mutmaßte er. «Heutzutage steht doch in jeder Wohnung eine Goebbelsschnauze.«
»Es sei denn, du bist Jüdin«, warf Rösen ein.
Daran hatte Daut nicht gedacht. Juden war der Besitz von Radioapparaten schon seit über drei Jahren verboten.
Sie gingen weiter durch die Wohnung. Überall das gleiche Bild. Alles ordentlich und sauber, nicht ein Staubkorn zu sehen. Im Schlafzimmer war das Bett gemacht. In der Küche stand kein einziges Geschirrteil in der Spüle, alles war ordentlich in den Schränken verstaut.
»So hinterlässt man eine Wohnung, wenn man verreisen will.«
Man merkte Rösen die Enttäuschung an. Sie hatten bisher keine einzige Spur, und die Wohnung gab auch nichts her.
Daut brachte es auf den Punkt:
»Sieht mir nicht so aus, als wäre hier ein Mord begangen worden. Und eins steht fest: Zwei Leichen wurden hier wohl kaum fachmännisch zerlegt worden. Ich denke, die Techniker brauchen wir hier nicht.«
Daut öffnete die Wohnungstür, während Rösen noch einmal ins Wohnzimmer ging und eine gerahmte Fotografie von der Anrichte nahm, auf der eine Frau mit einem Mädchen fröhlich in die Kamera lächelte.
»Jetzt wissen wir wenigstens, wie unser Opfer ausgesehen hat.«
Zurück im Auto, überlegten sie, noch zum OSRAM-Werk zu fahren, in dem Martha Grahn gearbeitet hatte. Rösen winkte ab.
»Erstens ist Sonntag, und zweitens haben wir noch ein anderes Problem an der Backe. Wenn Rudat richtig Wind von der Sache bekommt und erfährt, dass unser Opfer Jüdin war, wird er uns wohl kaum freie Hand bei den Ermittlungen lassen. Auf jeden Fall wird er darauf bestehen, dass wir die Kollegen von der Prinz-Albrecht-Straße informieren. Und was die dann entscheiden ... Am besten fahren wir ins Präsidium und schreiben erst mal einen Bericht.«
»Du vielleicht, Ernst. Mich bringst du aber vorher nach Hause. Mir reicht es für heute mit meiner Aushilfstätigkeit als Kriminaler.«
Neunzehn
Carla blickte sich um. Es dämmerte bereits, und trotzdem hatte die Zahl der Frauen nicht abgenommen. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass es eher noch mehr geworden waren.
Insgesamt vier Mal war in den vergangenen Stunden ein Lastkraftwagen vorgefahren. Jedes Mal waren zwanzig bis dreißig Menschen ins Gebäude gelaufen. Erkennen konnte man niemanden, die Polizisten schotteten die Sicht auf die Neuankömmlinge ab.
Ihr war kalt. Andere Frauen hatten eine Decke mitgebracht und sich darin eingewickelt. Sie konnte nur die Arme um den Körper schlingen.
»Hier, trink!«
Eine alte Frau reichte ihr einen Tonbecher, aus dem es verführerisch dampfte.
»Ist zwar nur dünner Muckefuck, aber immerhin heiß.«
Carla trank in kleinen Schlucken, um sich nicht den Mund zu verbrennen. Selten hatte ihr ein Gerstenkaffee so gut geschmeckt.
»Ist dein Mann da drin?«, fragte die hilfsbereite Frau.
Carla nickte, während sie in den Becher pustete.
»Und auf wen warten Sie?«
»Kannst mich ruhig duzen«, antwortete die Alte und lächelte Carla an,
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