Der Aufgang Des Abendlandes
die göttliche Ästhetik und
vollziehen als Abfall von Gott, d. h. von der Allerhabenheit, die innere Vergeltung an sich selbst. Der überzeugteste
Atheist und gewissenloseste Verbrecher ahnt nämlich mindestens in seiner Todesstunde als Gewißheit, was er
krampfhaft verleugnete und doch nie ganz bezweifelte: daß die Materie nicht das letzte Wort sei. Nicht irgendwelche
Ethik ist dem Menschen angeboren, wohl aber das Gefühl seiner hilflosen Nichtigkeit im Unendlichen. Aus diesem
handgreiflichen Sichtbaren stellt sich sofort die Voraussetzung eines noch viel unendlicheren Unsichtbaren ein. Je bleierner
Dummheit und Unwissenheit diese Ahnung niederwuchten, die sich aber schon beim rohesten Wilden nicht ersticken
läßt, desto dumpfer und plumper wird die Beziehung zur »Religion«. Je klarer die Vernunft sich
ausstrahlt, desto deutlicher wird ihr die Gewißheit des Transzendentalen. Adam fühlt »Gottes Auge« und
schämt sich, daß er nackt ist, verfertigt sich daher einen Lendenschurz ethischer Grundsätze. Kain würde
allzeit mit befriedigtem Instinkt den schwächeren Abel auffressen, wenn er nicht eine unirdische Stimme hörte:
»Wo ist dein Bruder?« Warum und woher tönt diese Stimme?
Ohne freie (nicht erzwungene) Anerkennung einer höhern sittlichen Allordnung hängt auch jedes Streben nach
sozialer Verbesserung in leerer Luft und Bedürfnis nach »geistigen Führern« wäre gegenstandlos,
wenn man diese nur als Förderer des Wohlbehagens wünschen würde. Denn alle eudämonistischen Werte
scheinen dem blinden Zufall überlassen, sobald man materialistisch denkt, ein Japan- und Messinaerdbeben könnte
jede Minute die Menschheit wegraffen, wie im Untergang Sodoms die Bibel andeutet. Da bedarf man keines Geistes und keines
Führers, es sei denn ein Leithammel der tibetanischen Riesenwidder, dem die Herde gehorsam in den Abgrund nachspringt,
um der Jägerkugel zu entgehen. So etwas setzt sich in »Mannentreue« um, wo man sich dem »Herrn«
opfert und den »König« als mystischen Popanz anbetet. Das ist aber kein altruistischer Affekt, sondern
Fortsetzung des primitiven Fetischkult. Der sonst edle Wilhelm I. schrieb mal bei Wiederkehr des 18. August: »Tausende
braver Leute fielen bei Gravelotte für mich«, welch ruchlose Naivität! Wo immer man die Sonde ansetzt, kann
die Menschennatur aus sich keine Ethik gebären. Allerdings deutet die Genesis an, daß schon in Urzeit Abel neben
Kain stand, neben einer Masse von Wilden auch andere, die über das Tierleben hinausstrebten und als Priester,
Sterndeuter, Skalden den Geistesfunken weckten. Solche Anfangsverschiedenheit der Anlage müßte schon im
Protoplasma entstanden sein, was mechanistisch undenkbar, da der Materialismus psychische Befruchtung ausschließt, wird
aber durch die Geheimlehre des Karmagesetzes verständlich, die nicht Protoplasmen, sondern Materialisierung von
»geistigen Naturen« (Kant) voraussetzt. Die Nachkommen Abels könnten nun den amoralischen Wilden nicht Ethik
beigebracht haben, wenn sie sich nicht auf Etwas außerhalb der Materie bezogen hätten und dies Etwas als Ursprung
der Religion nicht dem Rohsten und Dümmsten eingeleuchtet hätte. Diesen Überbegriff müssen wir dort
suchen, wo allgemeine sinnliche Wahrnehmung sich zu natürlicher übersinnlicher Folgerung entwickelte. Dann werden
wir bewiesen haben, daß zunächst immer nur Religion, d.h. Gottglaube entstand und menschliche Ethik nur mit Bezug
darauf möglich ist, eine »gottlose« Menschheit daher auf jede soziale Verbesserung verzichten muß.
Wenn Taine meint: »Laster und Tugend sind Naturprodukte wie Vitriol und Zucker«, Larochefoucould die Tugend
verfeinerten Egoismus nennt, so übersieht solche Oberflächlichkeit folgendes. Ist die weit häufiger
unbewußte als bewußte Heuchelei die Verbeugung des Lasters vor der Tugend, warum hält sie sich die
Hintertür offen, hält also die Tugend für das ihr unerreichbare Richtige? Jedes Naturprodukt ist zwar
untereinander gleichwertig, der Vergleich aber obendrein übel gewählt, denn Vitriol ist ein künstliches,
Zucker ein natürliches Gebilde, Laster vergleichsweise kein Naturprodukt, obwohl Folge kausaler Ursachen. Produziert die
Natur irgendwo qualitativ ganz Entgegengesetztes, d.h. durchaus Schädliches neben dem Nützlichen? Das Raubtier ist
nötig, Wälder und Pflanzen gingen sonst zugrunde durch Überhandnehmen des Wildes. Die Schlange in den Tropen
auszurotten wäre unheilvoll,
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