Der Aufgang Des Abendlandes
sie versieht den wichtigen hygienischen Polizeidienst, unzählige Bakterienträger
zu vertilgen. Welchen Nutzen bringt aber das Laster? Die bitter ironischen Romantitel »Das Entzücken des Lasters,
das Unglück der Tugend« des Revolutionärs de Sade bezeichnen nur eine Dokumentsammlung gegen das verrottete
ancien Regime, malen die Hölle, in die das Laster führt, und deren nahe Explosion. Nicht die Natur schafft
unnatürliche Wollust und »viehische« Grausamkeit, die das Vieh nicht kennt, sondern der Mensch, nicht aus
seiner physischen (die es ihm verbietet), sondern psychischen Anlage: Sobald er Gott abschwört, verfällt er der
»Schwarzen Messe« des Teufels, da nur Gottglaube ihn zur Ethik zwingt.
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Es bedrückt das Gemüt, wenn sogenannte Gottesgelahrtheit von Theologie-Professoren (Vergl. die »Evangelien
als historische Dokumente« vom Cambridger Professor Standon) noch heute sich damit abquält, historisch
festzustellen, wann irgendein Kirchenvater zuerst seinen mythologischen oder dogmatischen Kram auspakte. Welches Interesse
hat für uns, was unwissende Leute, denen zumeist jede philosophische Bildung abging, in einer geistig und ethisch
verdorbenen Epoche, wie in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche, ihren noch unwissenderen Täuflingen
vorschwatzten? Ebensogut und oft mit größerem Recht könnten wir uns dafür interessieren, welchen
Hokuspokus ägyptische oder chaldäische Priester, die ihren Geheimkult für sich behielten, vor den fürs
Volk bestimmten Götzenbildern anstellten. Historie belebt nicht Religion, aus keiner Geschichte der Philosophie lernt
man denken. Es wäre an der Zeit, uns nicht mehr mit Dingen zu belästigen, die wie Raritäten eines
Antiquitätenkabinetts wohl den Sammler, aber nicht die Öffentlichkeit angehen. Ob Pfleiderer, Schmiedel, Holtzmann
und der scharfe Abbé Loicy sich gegen die Echtheit des Ev. Joh. wenden oder Schürer und Drummond eine
vermittelnde Haltung annehmen oder der beredte Harnack diplomatisch schwankt, jedenfalls erwies man dem Christentum keinen
Dienst, als man das gedanklich und poetisch bedeutendste Evangelium als späte Arbeit eines christianisierten
Neuplatonikers aufdeckte. Viel vom Reiz der Persönlichkeit Jesu, viel von Bewunderung seiner tiefsinnigen Lehre geht
dann verloren. Die »echten« Evangelien zeigen uns einen volkstümlichen Prediger mit revolutionärem
Anstrich, nicht einen erkenntnistheoretischen Gottfinder vom Schlage Buddhas. Daß eine trocken kritische Natur wie
Strauß diese wundersame Gestalt nicht durchdringen konnte, daß Renans schwermütig süßliche Ironie
dem »Erlöser« umsonst rationalistisch beizukommen suchte, daß Schopenhauer, Wagner, Tolstoi und
Antichrist Nietzsche ihn einseitig mißverstanden, berechtigt nicht zu der fanatischen Einseitigkeit Weinels
(»Jesus im 19. Jahrh.«): »entweder Christus oder nichts, entweder Christi Gott oder keiner«, was denn
selbst Chamberlain zu viel ist. Dieser versündigt sich zwar an Buddha und indischer Urweisheit, behält sich aber
seine Alleinwürdigung Christi nur für dessen Persönlichkeit vor, während er dessen angeblich
persönlichen Gott (im jüdischen Sinne) ablehnt. Es bleibt aber ein seltsames Unterfangen, Religion nicht auf die
Lehre, sondern auf die Person des Stifters zu gründen. Nun gar erst, wenn wir von ihr so wenig und so schlecht
Verbürgtes wissen. Die paar Zeilen im Josefus und Tacitus sind die einzig historischen Überlieferungen, die im
Josefus sollen sogar spätere Interpolationen sein und es fehlt nicht an Stimmen, die dem Christos jede Existenz
absprechen. Wir freilich halten aus bestimmten Gründen an dieser Existenz fest, halten aber Ev. Joh. für ein
Anzeichen, daß man schon früh geneigt war, das ganze nur als theosophisches Mysterium auszulegen. Wir sind ferner
überzeugt, daß Jesus seinen »persönlichen« Gott in einer Auffassung lehrte, die wir philosophisch
gutheißen, denn wir erkennen im Allgott einen für den Menschen selber persönlich Werdenden. Manche
Aussprüche Jesu sind vieldeutig und scheinbar dunkel, obwohl oft blendend klar für den Verstehenden, und da man
bedenken muß, daß er sich schlichten ungebildeten Jüngern verständlich machen wollte und diese
vielleicht seine Worte nicht wortgetreu wiedergaben, so bleibt offen, ob wir nicht im Jesus der »echten«
Evangelien verschleiert den gleichen gewaltigen Seher vor uns haben wie im »unechten« Ev. Joh. Die scheinbare
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