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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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dann aber
müßten Hirn- und Weltraum dem Wesen nach räumlich adäquat sein, was natürlich Unsinn ist. Da jeder
Erfahrung etwas Erfahrungsfähiges vorausgeht und der unendliche Raum des Bewußtseins vom engen Hirnraum
verschieden, so hat Classen recht, daß gerade deshalb das Bewußtsein eine Außenwelt wahrnehmen kann, was
bei Identität von Welt- und Hirnraum unmöglich wäre. Doch tappt er selbst in Unklarheit. »Was auf
Empfindung beruht, ist wirklich«, wirklich? Daß wir die Eigenschaften der uns fremden Dinge unsern Empfindungen
anpassen, ist kein Beweis der Wirklichkeit.
    Hierher gehören Untersuchungen über das Farbenproblem. Classen sucht als Arzt scharfsinnig zu überzeugen,
daß die Beziehungen der Netzhaut nur mit der allgemeinen Empfindung parallel gehen, keineswegs mit ihr identisch.
Nervenerschütterung durch Ätherwellen genügt für den Farbenschein, wir möchten an den Volksausdruck
erinnern, daß es einen grün und blau vor den Augen wird. Daß für jede Farbe eine besondere
Netzhautfaser bestehe, scheint uns eine verfehlte Hypothese Helmholtz', als ob das Nervensystem von vornherein sich auf etwas
einrichtete, was ursprünglich gar nicht bestand, nämlich Farbenskala. Wir geben freilich als möglich zu, die
betreffende Substanz des Sehvermögens habe sich nachträglich dem Prozeß des Farbeempfindens
äußerlich angepaßt, so wie andauernde Einwirkung auf das Gehör vielleicht kleine Änderungen im
Ohrgehäuse verursacht. Dies alles fällt unter physische Kausalität, erklärt aber nicht entfernt, wieso
überhaupt Farben wahrgenommen werden. Neger, obschon von gleichen Lichtwellen berührt, sehen angeblich nur eine
Grundfarbe, somit ist Farbe ein individueller Subjektivismus. Uns scheint unnötig über Grund- und Mischfarben zu
spekulieren, dagegen ist wichtig, daß jeder Lichtreiz, da elektrische Ströme positiv und negativ wirken, auf den
Sehnerv doppelpolare Wirkung übt, wodurch vielleicht Farbenempfindung entsteht. Polarer Doppelreiz wirkt aber auf jeden
lebendigen Nerv, daher müßte Analogie zur »Farbe« auch anderswo aufgefunden werden, Ob die
Farbenqualität etwa mit Erinnerungsassoziation zu tun hat, wie Goethe zu glauben schien, scheint uns fragwürdig,
denn die ersten Menschen sahen gewiß die gleichen Farben und hatten dabei keine Erinnerung wachzurufen. Farbenlehre
trägt wenig zur allgemeinen Psychologie bei, denn die Ästhetik, welchen positiven oder negativen Reiz jede
»kalte« oder »warme« Farbe ausübt, ist rein subjektiv. Gelbbraun machte auf Goethe den Eindruck
des Kotigen, andern befriedigt es angenehm den Sehnerv; Zinnoberrot, eine kalte und künstlerisch mißfällige
Farbe, erfreut das Bauernauge, wie es auch viele Gebildete haben, die das Grelle für koloristisch halten. Classen
liefert den fachmännischen Beitrag, Schielen sei eine psychische Lähmung der Netzhaut, hier kann der Denker
weiterbauen: so wäre Erblindung eine ähnliche Erkrankung wie Geistesverfinsterung. Dem scheinen physische Ursachen
zu widersprechen, bei denen aber indirekte viel häufiger als direkte. Letztere (Überanstrengung des Sehnervs durch
zu viel Lesen kleiner Schrift im Halbdunkel, zu viel Benutzen künstlicher Gläser) führen meist nur zu
Schwächung, nicht Versiegen der Sehkraft, selbst gewaltsame Eingriffe, falls sie nicht zu wirklicher Zerstörung
führen, rauben dem Auge nicht so sicher die Kraft wie Bluterkrankung. Wirft Erkältung sich aufs Auge, so geschieht
dies nur, wie bei Darm- oder Lungenkatarrh allgemeine Störung körperlichen Gleichgewichts sich auf den
schwächsten Teil wirft. Dagegen geht sehr häufig Erblindungen eine lange Periode von Kopfkongestionen vorher, auch
Hirnsyphilis (Nietzsche) kann ebensogut zum Irrsinn wie zur Erblindung führen. Bei den heftigsten Geistesarbeitern, die
am meisten lasen, kam ein Schwächerwerden der Augen allzeit ebenso selten vor wie Behaftung mit chronischen
Migränen. Nicht umsonst stecken die Sehorgane im Kopfe auf gleichem Niveau wie der innere Nerv, Augen- und
Hirnerkrankung dürfte ziemlich das gleiche sein, so daß Erblindung oft vor Wahnsinn und Wahnsinn oft vor
Erblindung schützt, Symptome gleicher Ursache. Wenn ein Arzt sich nicht zu solcher Deduktion aufschwingt, so dürfte
man wenigstens erwarten, daß sowohl Classen als Goethe auf zwei Phänomene Gewicht gelegt hätten, die ein
besonderes Eicht auf das Sehproblem werfen. Zunächst die Negation des subjektiven Farbengenusses durch

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